20070820

Deinen Naechsten lieben

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Deinen Nächsten lieben wie dich selbst
September

Zur 2. Lesung am 23. Sonntag im Jahreskreis, Lesejahr A
Den Nächsten lieben wie dich selbst — so wie wir gewöhnlich diesen Satz hören und verstehen, erscheint dabei die Selbstliebe als das, was keine Erklärung braucht, weil es von selber da ist. Die kopernikanische Revolution, zu der hier der Mensch herausgefordert ist, besteht darin, das Ich nicht mehr als Zentrum der Welt zu betrachten, sondern es mit allen Kindern Gottes gleichrangig zu finden von der wahren Mitte, vom Schöpfer her. Das ist sicher der zentrale Gesichtspunkt, auf den das Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe verweisen will. Aber man kann es von den Erfahrungen unserer Zeit her auch von einem anderen Gesichtspunkt aus angehen. Wer heute mit wachen Augen sich selbst und die anderen betrachtet, wird bald bemerken, dass die Stellung zum Ich weithin ihre selbstverständliche Unkompliziertheit eingebüßt hat. Über einen Menschen, der allezeit missmutig und unleidig ist, sagt der Volksmund: Er mag sich selber nicht. Und wirklich ist die Uneinigkeit mit sich selbst häufig der tiefste Grund der Uneinigkeit mit dem Du. Egoismus ist etwas ganz anderes als Annahme seiner selbst, als wahre Selbstliebe, die zugleich Offenheit zur Nächstenliebe werden kann. Die letzte Notiz, die Bernanos seinen Landpfarrer im Tagebuch eintragen lässt, sagt: „Es ist leichter als man glaubt, sich zu hassen. Die Gnade besteht darin, dass man sich vergisst. Wenn aber aller Stolz in uns gestorben wäre, dann wäre die Gnade der Gnaden, sich selbst demütig zu lieben als irgendeinen, wenn auch noch so unwesentlichen Teil der leidenden Glieder Christi." In der Tat, wie leicht ist es, mit sich selbst zu zerfallen: Warum ist dieses Ich so gebaut, dass es mich zum Triebverzicht, zum ständigen Ausgleich mit dem Du und mit dem Es zwingt? Warum ist mir diese und jene Begabung versagt, die den anderen reich und frei und glücklich macht? Warum muss ich mich mit diesem störrischen und ungefügen Ich herumschlagen? Warum ist es in eine Welt geworfen, mit der es nicht konform werden kann? Der tiefste Kern seelischer Erkrankung, so sagt uns die Erfahrung vieler Psychiater, ist das Scheitern der Annahme seiner selbst, der Konflikt mit dieser mir vorgegebenen Kreatur meines Ichs. Und diese Uneinheit sperrt den Weg zum Du. Oder ist es vielleicht umgekehrt — nur wer sein Dasein vom anderen bestätigt und angenommen findet, kann sich auch selbst annehmen?
Beides greift wohl ganz eng ineinander: Erst das Angenommensein vom Du ermöglicht das Ja zum Ich; erst das Eins sein mit dem Ich öffnet den Weg zum Du. Selbst- und Nächstenliebe sind unlösbar ineinander verschränkt.
So könnte uns das Gebot, den Nächsten zu lieben „wie dich selbst" heute zu einer Lektion über die rechte Annahme seiner selbst werden, ohne die wir auch den Nächsten nicht wahrhaft zu bejahen vermögen. Letztlich vollzieht sich in der Selbstannahme Annahme des Schöpfers: Dieses Ich mit all seinen Grenzen und Mühsalen ist ein Stück Schöpfung. Auch über ihm steht das „Gut" des letzten Schöpfungstages. Und eben deshalb ist es nicht nur pragmatisch zu ertragen, sondern der Wahrheit gemäß annehmbar. Das „Gut" ist wahr. Jede andere Gutheißung bliebe im letzten zu wenig. Der Glaube an den Schöpfer ist die innerste Ermöglichung für jede Art von Liebe. Vom Schöpfer her kommt jenes Ja, das Ich und Du vereint.



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