20070906

Von Gott betroffen, Edith Stein

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Quelle und Literatur siehe unten.

Hören wir nicht oft, auch von christlicher Seite, der Mensch sei zu einer echten Gotteserfahrung, zum Erleben der Transzendenz nicht mehr fähig? Wie rasch ist man philosophisch, theologisch oder psychologisch der Auffassung, diese Erfahrungen gehörten in den Bereich des Mythos. Nach Ansicht des Theologen Josef Ratzinger sind solche Urteile übereilt und können leicht durch glaubwürdige Zeugnisse vieler Männer und Frauen widerlegt werden.
Der Lebensweg Edith Steins bietet uns ein Modell, wie auch wir Menschen des 21. Jahrhunderts, durch alle Anfechtungen und Wirrnisse hindurch, den erfahren können, der unser Herz unruhig gemacht hat, damit es ruhe in ihm (Augustinus). Die Etappen Edith Steins geistig-seelischer Entwicklung sprechen den modernen Gottsucher an: Jüdin - Atheistin - Studentin - Rote-Kreuz-Schwester - Philosophin - Konvertitin - Lehrerin -Wissenschaftlerin und Rednerin in Frauenfragen - Dozentin an einer pädagogischen Hochschule und zuletzt Karmelitin und Martyrin für ihr Volk in den Gaskammern von Auschwitz. Das ist der Lebensweg eines Menschen, der sich an den Fragen unserer Zeit nicht vorbei gedrückt hat, der offen war für die Ansprüche und Nöte unserer Gesellschaft, der ganze Arbeit geleistet hat und nach Wegen Ausschau hielt, nach denen unsere Zukunft menschlicher und sinnvoller gestaltet werden kann. Wenn wir Edith Stein fragen könnten, aus welcher Grundhaltung heraus sie dieses reiche Lebensprogramm bis zu ihrem Tod entfaltete, so würde sie uns wohl als erstes ihre unerbittliche Suche nach Wahrheit, nach dem Sinn des Lebens nennen. Als sie als junger Mensch den Glauben an einen die Welt transzendierenden Gott noch ablehnte, geschweige denn eine Erfahrung von ihm hatte, bemühte sie sich, wahrhaftig, selbstlos und sozial zu sein. Wahrhaftig, indem sie es verabscheute, um eines Vorteils willen Unwahres zu sagen oder zu tun. Sie nannte sich Atheistin, weil der Gott ihres jüdischen Glaubens für sie nicht existierte. Sie verhielt sich selbstlos und sozial, indem sie sich als Schülerin und Studentin mitfühlend und helfend für andere einsetzte. Früh wurde sie in ihrer Familie und von Freunden um Rat gefragt und wegen der Festigkeit ihres Charakters geschätzt.
Und doch fehlte der jungen Studentin etwas Wesentliches. Sie war bescheiden, aber auch selbstsicher. Sie war freundlich und hilfsbereit, aber auch gewohnt, dass man zu ihr aufschaute, dass sie etwas zu geben hatte. Sie war innerlich einsam und hungerte nach einem Lebenssinn. Dass ihr dieser fehlte, ging ihr erschreckend auf beim Psychologiestudium in Breslau (1911). Die Psychologie jener Zeit war eine 'Psychologie ohne Seele'. Sie überließ es dem einzelnen, ob er sich hinter den Sinneswahrnehmungen eine geistige Einheit, einen Sinn, eine Seele vorstellen wollte oder nicht. In ihrer Not stieß Edith Stein auf die Schriften des bedeutenden jüdischen Philosophen Edmund Husserl. Husserl bemühte sich um eine Wiederentdeckung des Geistes. Er forschte nach innerer Wesenserkenntnis, nach dem Sein der Dinge. Dadurch erzog er seine Schüler zur Ehrfurcht vor objektiven Werten, zur Vorurteilslosigkeit in der Betrachtung der Phänomene des menschlichen Daseins. Edith Stein erhoffte sich von Husserls Methode eine Antwort auf ihre Fragen und wechselte an die Universität Göttingen über. Sie wurde eine der treuesten Schülerinnen des Meisters, erkannte aber, dass auch Husserl im letzten keine Antwort auf die Wahrheitsfrage hatte. Die Philosophie als strenge Wissenschaft, wie Husserl sie betrieb, war wie alles Menschliche Bruchstück und mit Irrtümern behaftet. Edith Stein war radikaler als Husserl. Sie wollte nicht im Subjektiven, im Reich der Ideen stehen bleiben, sie wollte ernst machen mit der Objektivität der Dinge.
Zwei Begegnungen in Göttingen führten die Suchende an die Schwelle einer neuen Welt - der Welt des Glaubens. Max Scheler, ein konvertierter Jude, hielt 1913 Vorlesungen über die Schönheit der katholischen Glaubenswelt. Zum ersten mal in ihrem Leben hörte Edith Stein etwas über Begriffe wie: Heiligkeit, Demut, Reinheit. Sie bekennt, dass diese Welt ihr unbekannt war, aber sie wollte sich diesen neuen Eindrücken sachlich und hörend stellen. Dem Glauben öffnete sie sich nicht, aber sie entdeckte, dass es Werte gab, an denen sie nicht einfach blind vorbeigehen konnte. Über die Schwelle des Glaubens führte sie eine zweite Begegnung, die Bekanntschaft mit dem Husserl-Schüler Adolf Reinach. Dieser zur evangelischen Kirche konvertierte Philosoph, der in seiner Umgebung einen unvergesslichen Eindruck hinterlassen hat, führte Edith Stein zu einer Erfahrung, die die Grenzen der natürlichen Vernunft überstieg. Sie sagte darüber: „Ich war nach dieser ersten Begegnung (mit Reinach) sehr glücklich und von einer tiefen Dankbarkeit erfüllt. Es war mir, als sei mir noch nie ein Mensch mit einer so reinen Herzensgüte entgegengekommen. Dass die nächsten Angehörigen und Freunde, die einen jahrelang kennen, einem Liebe erweisen, schien mir selbstverständlich. Aber hier lag etwas ganz anderes vor. Es war wie ein erster Blick in eine ganz neue Welt."
Man kann hier von einer ersten Gotteserfahrung Edith Steins sprechen. Gott offenbarte sich ihr durch die Liebe und Güte eines Menschen als der ganz Andere und doch ganz Nahe. Ihr Blick in die neue Welt vertiefte sich durch eine Erfahrung, die ihr bewies, wie sich die Liebe Gottes mitteilen kann und wie sie es einmalig getan hat im Todesleiden und in der Auferstehung Christi.
Im Jahre 1917 fiel Reinach in Flandern. Wie alle seine Freunde, war auch Edith Stein tief getroffen. Sie dachte vor allem an das Leid der jungen Witwe. Sie wurde gebeten, den Nachlass des Gefallenen zu ordnen, und erklärte sich sofort dazu bereit. Aber sie hatte Angst vor der Begegnung mit Frau Reinach. Sie wusste nicht, was sie ihr zum Troste sagen sollte, weil sie nicht an ein ewiges Leben glaubte. Sie stellte sich Frau Reinach ebenso verzweifelt vor, wie sie selbst es war. Zu ihrer Überraschung war die Witwe keineswegs zerbrochen. Die schwer geprüfte Frau war kraft ihres christlichen Glaubens noch fähig, die Ungläubige und Zweifelnde zu trösten. Dieses Erlebnis überwältigte Edith Stein. Vor dem Anblick dieser von Hoffnung erfüllten Frau fielen ihre rationalistischen Vorurteile zusammen. Es ging ihr auf, dass nicht wissenschaftliche Erkenntnis den Menschen verwandelt, sondern ein Angerührtwerden von der Wahrheit selbst.
Diese Erfahrung Gottes prägte sich ihr so tief ein, dass sie noch kurz vor ihrem Sterben sagen konnte: "Es war dies meine erste Begegnung mit dem Kreuz und der göttlichen Kraft, die es seinen Trägern mitteilt. Ich sah zum ersten mal die aus dem Erlöserleiden geborene Kirche in ihrem Siege über den Stachel des Todes handgreiflich vor mir. Es war der Augenblick, in dem mein Unglaube zusammenbrach und Christus aufstrahlte, Christus im Geheimnis des Kreuzes."
Nun begann in Edith Stein ein heftiger Kampf. Gott selbst hatte das Innere der Ungläubigen angerührt; diese Erfahrung war so unmittelbar und lebendig, dass keine Argumentation der Vernunft sie hinweg disputieren konnte. Aber der Mensch hat nicht nur Vernunft, sondern auch Willen, der alles, was die Vernunft ihm nahe legt, ablehnen kann.
Dieses Geheimnis der Willensfreiheit fasste Edith Stein in die Worte: "Ein überzeugter Atheist wird in einem religiösen Erlebnis der Existenz Gottes inne. Dem Glauben kann er sich nicht entziehen, aber er stellt sich nicht auf seinen Boden, er lässt ihn nicht in sich wirksam werden, er bleibt unbeirrbar bei seiner wissenschaftlichen Weltanschauung, die durch den Glauben über den Haufen geworfen würde."
(Edith Stein, Beiträge zur philosophischen Begründung der Psychologie und phänomenologische Forschung Bd V (Halle 1922) S. 43)
Mit psychologischer Schärfe beschreibt sie eine seelische Verfassung, die auch immer wieder die unsere ist. Wir stellen uns nicht den Konsequenzen, die sich aus den Erfahrungen, die wir mit Gott machen, ergeben. Wir handeln, als gäbe es diese Erfahrungen nicht, und suchen sie durch irgendeine vordergründige Sache zu verdecken.
Von 1917 bis 1921 rang Edith Stein mit diesem Zwiespalt, den sie mit einem 'Todesschatten' verglich. Sie begann, das Neue Testament zu lesen, und fragte sich, ob sie evangelisch oder katholisch werden sollte. Doch ihr Wille blieb gelähmt. Da geschah etwas Unerwartetes. Als sie zu einem Besuch bei ihrer Freundin Hedwig Conrad-Martius weilte, fand sie im Bücherschrank die Autobiographie Teresas von Ävila. Sie las sie in einem Zug, und als sie nach einer durchwachten Nacht das Buch schloss, sagte sie: "Das ist die Wahrheit."
Edith Stein hatte ihr eigenes Ringen, ihre Nöte und Fragen im Werk der großen Spanierin wiedergefunden. Teresa von Ävila, die 1970 von Papst Paul VI. zur Kirchenlehrerin ernannt wurde, zeigte Edith Stein in meisterhafter Weise, dass wir weder Gott noch uns treu sein können, wenn wir nicht Antwort geben auf die Erfahrung Gottes. Gott ruft nicht, damit wir schlafen, sondern damit wir, als sprechende Wesen erschaffen, wach werden. Glauben war für Teresa nicht Fürwahrhalten der Existenz Gottes oder vorgelegter Glaubensartikel, sondern eine personale Beziehung zwischen Mensch und Gott. Unermüdlich mahnt sie, das Gespräch mit Gott, mit Jesus Christus zu üben. Beten war für sie nicht Hersagen von Worten, sondern Freundschaft, Erfahrung der göttlich-menschlichen Liebe.
Teresa half Edith Stein zu neuer Tatkraft, sie fühlte sich im Innersten verstanden. Am 1. Januar 1922 empfing Edith Stein die Taufe und hatte keinen anderen Wunsch mehr, als in den Karmel Teresas einzutreten. Ihre Freunde aber verstanden ihre Gotteserfahrung nicht. Staunend sahen sie Edith Stein in den Kirchen von Speyer oder Beuron stundenlang beten und meinten, das sei doch sehr viel. Sie forderten sie auf, ihre Begabung in den Dienst der Menschen zu stellen und nicht hinter Klostermauern zu verschwinden. Priester rieten ihr dasselbe. Edith Stein schwieg und gehorchte, nicht zuletzt deshalb, weil ihre streng gläubige jüdische Mutter zwei Schicksalsschläge auf einmal - Konversion und Klostereintritt - nicht ertragen hätte.
In zehn arbeitsreichen Jahren als Pädagogin, Übersetzerin des hl. Thomas von Aquin und Rednerin in Frauenfragen lernte Edith Stein, was es heißt, ja zu sagen zur Erfahrung Gottes und sich dennoch ausgeschlossen zu fühlen vom eigentlichen Berufsziel. Sie war sehr sparsam mit Worten über das, was sie von Gott erfuhr. Doch sie stellte fest, sie fühle sich seit ihrer Konversion wie 'verwandelt'. Ohne es zu wissen, gebrauchte sie einen Ausdruck der mystischen Terminologie. Paulus, Augustinus, Teresa von Ävila, Theresia von Lisieux, Charles de Foucauld und andere sprachen über ihre Beziehung zu Gott in ähnlichen Worten. Indirekt, aus Briefen oder Schriften, können wir ahnen, wie intensiv Edith Stein die Freundschaft mit Gott gelebt hat, wie sehr es Geben und Nehmen war. Freunde und Schülerinnen spürten ihre Ausstrahlung, ihre Hingabefähigkeit, ihr radikales Ernstmachen mit der Botschaft Christi. In einem ihrer Vorträge sagte sie: "Es ist ein weiter Weg von der Selbstzufriedenheit eines guten Katholiken, der seine Pflichten erfüllt, eine gute Zeitung liest, richtig wählt, im übrigen aber tut, was ihm beliebt, bis zu einem Leben an Gottes Hand, in der Einfalt des Kindes und der Demut des Zöllners. Aber wer ihn einmal gegangen ist, wird ihn nicht wieder zurückgehen."
(Edith Stein, Das Weihnachtsgeheimnis (Selbstverlag Karmel Köln 1950) S. 13)
Die Einfalt des Kindes und die Demut des Zöllners machten Edith Stein nicht infantil oder weltfremd. Sie füllte ihren Platz als berufstätige Frau voll aus und suchte durch Pläne für eine Schulreform sowie neue Wege in der Frauenerziehung die Frau in die moderne Gesellschaft zu integrieren.
1933 verhalfen die Nationalsozialisten Edith Stein - ohne es zu wollen - zu ihrem eigentlichen Lebensziel. Nachdem ihr durch die Nichtarier-Gesetze eine weitere Tätigkeit am Institut für wissenschaftliche Pädagogik in Münster unmöglich gemacht wurde, trat sie im Herbst 1933 in den Kölner Karmel ein. Mehrmals hätte sie Gelegenheit gehabt, ins Ausland zu fliehen, doch sie wollte  in der Nähe ihres leidenden jüdischen Volkes bleiben. Häufig sprach sie zu Besuchern vom inneren Frieden, den sie im Karmel gefunden hatte. Edith Stein war ihren Schwestern eine gute Gefährtin. Die Freude ihrer Begegnung mit Gott machte sie fähig, das schwere Schicksal ihres Volkes mitzuleiden, ohne bitter zu werden. Sie wusste, dass sie im Karmel nicht sicher war. Nicht umsonst wählte sie den Ordensnamen: die vom Kreuz Gesegnete - Teresia Benedicta a Cruce. Sie hatte erfahren, welche Kraft das Kreuz denen mitteilt, die es um Christi willen auf sich nehmen. Je dunkler es um sie wurde, desto stärker wusste sie sich geborgen im Licht Gottes.
Nach den Ausschreitungen gegen die Juden im Pogrom ('Reichskristallnacht') 1938 wollte sie den Kölner Karmel nicht länger gefährden und nahm die Einladung des Karmels in Echt/Holland gerne an. Hier schrieb sie, nachdem sie bereits in Köln die philosophisch-theologische Studie 'Endliches und Ewiges Sein' verfasst hatte, eine Analyse der mystischen Lehre ihres Ordensvaters Johannes vom Kreuz. Darin lesen wir: "Die bräutliche Vereinigung der Seele mit Gott ist das Ziel, für das sie geschaffen ist, erkauft durch das Kreuz, vollzogen am Kreuz und für alle Ewigkeit mit dem Kreuz besiegelt."
(Edith Stein, Kreuzeswissenschaft. Studie über Joannes a Cruce, Edith Steins Werke Bd 1 (Louvain - Freiburg i. Br. 2/1954) S. 241)
Dies war keine fromme Redensart, Edith Stein lebte jedes ihrer Worte bis zu ihrer eigenen seelischen und körperlichen Kreuzigung. Wir wissen, wie sie in den Tod ging. Ruhig und gefasst nahm sie bei der Verhaftung in Echt die Hand ihrer Schwester Rosa und sagte im Angesicht der SS-Schergen: "Komm, wir gehen für unser Volk."
(Kölner Selig- und Heiligsprechungsprozess (Articuli) der Dienerin Gottes Sr. Teresia Benedicta a Cruce (Edith Stein). 1962, S. 92)
Edith Stein ging in die Verhaftung mit der ganzen Liebe und Opferbereitschaft ihres Herzens. Im Sammellager Westerbork dachte sie an die andern, nicht an sich. Sie half und tröstete. Ein Beamter berichtete, inmitten der grauenhaften Situation sei ein Gespräch mit ihr wie „eine Reise in eine andere Welt" gewesen.
Am 9. August 1942 ist Edith Stein mit ihren jüdischen Brüdern und Schwestern den Vergasungstod gestorben. Aus dieser Vernichtung ist Licht aufgegangen, das allen leuchtet, die es sehen wollen. Edith Steins Leben sagt uns: Gott ist da, er lebt mitten unter uns, er lässt sich erfahren, auch durch alle Untergänge hindurch.

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Quelle und Literaturhinweis:
Verweilen vor Gott
Waltraud Herbstrith
(Teresia a Matre Dei)
Basel, Wien 1977
S. 93-101
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