20070908

Auf Christus schauen, Papstpredigt

This is the german transscript of the sermon (speech) of Pope Benedict XVI on 2007, Sept. 8. in Mariazell.
Auf Christus schauen. Predigt des Papstes am Samstag dem 8. September in der Wallfahrtskirche Mariazell. Abschrift (Transkript): WvG.

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Liebe Brüder und Schwestern
Bei unserer großen Wallfahrt nach Mariazell feiern wir das Patrozinium dieses Heiligtums, das Fest Mariae Geburt. Seit 850 Jahren kommen hierher Beter aus verschiedenen Völkern und Nationen mit den Anliegen ihres Herzens und ihres Landes, mit den Sorgen und den Hoffnungen ihrer Seele. So ist Mariazell für Österreich und weit über Österreich hinaus ein Ort des Friedens und der versöhnten Einheit geworden. Hier erfahren wir die tröstende Güte der Mutter hier begegnen wir Jesus Christus indem Gott mit uns ist wie heute das Evangelium sagt. Jesus von dem wir in der Lesung von dem Propheten Micha gehört haben. Er wird der Friede sein. In die große Pilgerschaft vieler Jahrhunderte reihen wir uns heute ein wir halten Rast bei der Mutter des Herrn und bitten sie: Zeige uns Jesus! Zeige uns Pilgern Ihn der der Weg und das Ziel zugleich ist die Wahrheit und das Leben. Das Evangelium das wir eben gehört haben öffnet unseren Blick noch weiter. Es stellt die Geschichte Israels von Abraham an als einen Pilgerweg dar, der in Aufstieg und Abstieg auf Wegen und Umwegen letztlich zu Jesus Christus führt. Der Stammbaum mit seinen hellen und finsteren Gestalten mit seinem Gelingen und seinem Scheitern zeigt uns, dass Gott auch auf den krummen Linien unserer Geschichte gerade schreiten kann. Gott lässt uns unsere Freiheit und er weiß doch in unserem Versagen neue Wege seiner Liebe zu finden. Gott scheitert nicht. So ist dieser Stammbaum eine Gewähr für Gottes Treue, eine Gewähr dafür, dass Gott uns nicht fallen lässt und eine Einladung unser Leben immer neu nach Ihm auszurichten, immer neu auf Jesus Christus zuzugehn. Pilgern heißt eine Richtung haben, auf ein Ziel zu. Dies gibt auch dem Weg und seiner Mühsal seine Schönheit. Unter den Pilgern des Stammbaumes Jesu waren manche die das Ziel vergessen haben und sich selber zum Ziel machen wollten, aber immer wieder hat der Herr auch Menschen erweckt, die sich von der Sehnsucht nach dem Ziel treiben ließen und danach ihr Leben ausrichten. Der Aufbruch zum christlichen Glauben, der Anfang der Kirche Jesu Christi ist möglich geworden, weil es in Israel Menschen des suchenden Herzens gab, Menschen die sich nicht in der Gewohnheit einhausten, sondern nach Größerem Ausschau hielten. Zacharias, Elisabeth, Simeon, Anna, Maria und Joseph, die Zwölf und viele andere. Weil ihr Herz wartete konnten sie in Jesus den erkennen den Gott gesandt hatte und so zum Anfang seiner weltweiten Familie werden. Die ??Heidenkirche ist möglich geworden, weil es sowohl im Mittelmeerraum wie im vorderen und mittleren Asien wohin die Boten Jesu kamen wartende Menschen gab die sich nicht mit dem begnügten was alle taten und dachten, sondern nach dem Stern suchten der sie den Weg zur Wahrheit selbst und zum lebendigen Gott weisen konnte. Dieses unruhige und offene Herz brauchen wir. Dies ist der Kern der Pilgerschaft. Auch heute reicht es nicht aus irgendwie so zu sein und zu denken wie alle anderen. Unser Leben ist weiter angelegt. Wir brauchen Gott. Den Gott der uns sein Gesicht gezeigt und sein Herz geöffnet hat, Jesus Christus. Johannes sagt von ihm zu Recht, dass er der einzige ist der Gott ist und am Herzen des Vaters ruht. So konnte auch nur er aus dem Innern Gottes selbst uns Kunde bringen von Gott. Kunde auch wer wir selber sind, woher wir kommen und wohin wir gehen. Sicher, es gibt viele große Persönlichkeiten in der Geschichte, die schöne und bewegende Gotteserfahrungen gemacht haben, aber es bleiben menschliche Erfahrungen mit ihrer menschlichen Begrenztheit. Nur Er ist Gott und Er ist daher die Brücke die Gott und Mensch wirklich zueinander kommen lässt. Wenn wir Christen Ihn daher den einzigen für alle gültigen Heilsmittler nennen der alle angeht und dessen allerletztlich bedürfen so ist dies keine Verachtung der anderen Religionen und keine hochmütige Absolutsetzung unseres eigenen Denkens, sondern es ist das Ergriffensein von dem der uns angerührt und uns beschenkt hat damit wir auch andere beschenken können. In der Tat setzt sich unser Glaube entschieden der Resignation entgegen die den Menschen als der Wahrheit unfähig ansieht, sie sei zu groß für ihn. Diese Resignation der Wahrheit gegenüber ist - meiner Überzeugung nach - der Kern der Krise des Westens, Europas. Wenn es Wahrheit für den Menschen nicht gibt dann kann er auch nicht letztlich gut und böse unterscheiden und dann werden die großen und großartigen Erkenntnisse der Wissenschaft zweischneidig und sie können bedeutende Möglichkeiten zum Guten und zum Heil des Menschen sein aber auch - und wir sehen es - zu furchtbaren Bedrohungen, zur Zerstörung des Menschen und der Welt werden. Wir brauchen Wahrheit. Aber freilich, auf Grund unserer Geschichte haben wir Angst davor dass der Glaube und die Wahrheit Intoleranz mit sich bringen. Wenn uns diese Furcht überfällt die ihre guten geschichtlichen Gründe hat dann wird es Zeit auf Jesus hin zu schauen. Wie wir Ihn hier im Heiligtum zu Mariazell sehen. Wir sehen Ihn da in zwei Bildern: Als Kind auf dem Arm der Mutter und über dem Hochaltar der Basilika als Gekreuzigten. Diese beiden Bilder der Basilika sagen uns: Wahrheit setzt sich nicht mit äußerer Macht durch, sondern sie ist demütig und gibt sich dem Menschen allein durch die innere Macht ihres Wahrseins. Wahrheit weist sich aus in der Liebe. Sie ist nie unser Eigentum, nie unser Produkt so wie man auch die Liebe nicht machen, sondern nur empfangen und weiter schenken kann. Diese innere Macht der Wahrheit brauchen wir. Dieser Macht der Wahrheit trauen wir als Christen. Für sie sind wir Zeugen. Sie müssen wir weiter schenken in der Weise wie wir sie empfangen haben, wie sie sich geschenkt hat.
Auf Christus schauen heißt das Leitwort dieses Tages. Dieser Anruf wird für den suchenden Menschen immer wieder von selbst zur Bitte. Zur Bitte besonders an Maria, die Ihn uns als Kind geschenkt hat. Zeige uns Jesus. Beten wir heute so von ganzem Herzen beten wir so auch über diese Stunde hinaus, inwendig, auf der Suche nach dem Gesicht des Erlösers: Zeige uns Jesus. Maria antwortet indem sie uns Ihn zunächst als Kind zeigt. Gott hat sich klein gemacht für uns. Gott kommt nicht mit äußerer Macht sondern Er kommt in der Ohnmacht Seiner Liebe die seine Macht ist. Er gibt sich in unsere Hände, er bittet um unsere Liebe, er lädt uns ein selbst klein zu werden, von unseren hohen Thronen herunter zu steigen und das Kind-Sein vor Gott zu erlernen. Er bietet uns das Du an, er bittet, dass wir Ihm vertrauen und so das Sein in der Wahrheit und in der Liebe erlernen.
Das Kind Jesus erinnert uns natürlich auch an alle Kinder dieser Welt in denen er auf uns zugehen will, an die Kinder die in der Armut leben, als Soldaten missbraucht werden, die nie die Liebe der Eltern erfahren dürfen, an die kranken und leidenden aber auch an die fröhlichen und gesunden Kinder. Europa ist arm an Kindern geworden. Wir brauchen alles für uns selber und wir trauen wohl der Zukunft nicht recht aber zukunftslos wird die Erde erst sein, wenn die Kräfte des menschlichen Herzens und der vom Herzen erleuchteten Vernunft erlöschen, wenn das Antlitz Gottes nicht mehr über der Erde leuchtet.
Wo Gott ist, da ist Zukunft. Auf Christus schauen! Werfen wir noch einen kurzen Blick auf den Gekreuzigten über dem Hochaltar. Gott hat die Welt nicht durch das Schwert, sondern durch das Kreuz erlöst. Sterbend breitet Jesus die Arme aus. Dies ist zunächst die Gebärde der Passion in der Er sich für uns annageln lässt, um uns sein Leben zu geben. Aber die ausgebreiteten Arme sind zugleich die Haltung des Betenden die der Priester mit seinen im Gebet ausgebreiteten Armen aufnimmt. Jesus hat die Passion, sein Leiden und seinen Tod im Gebet umgewandelt in einen Akt der Liebe zu Gott und zu den Menschen. Darum sind die ausgebreiteten Arme des Gekreuzigten endlich auch ein Gestus der Umarmung mit der Er uns an sich zieht, in die Hände seiner Liebe hinein nehmen will. So ist er ein Bild des lebendigen Gottes, Gott selbst, Ihm dürfen wir uns anvertrauen. Auf Christus schauen! Wenn wir das tun dann sehen wir, dass das Christentum mehr und etwas Anderes ist als ein Moralsystem als eine Serie von Forderungen und von Gesetzen. Es ist das Geschenk einer Freundschaft die im Leben und im Sterben trägt. "Nicht mehr Knechte nenn' ich euch sondern Freunde" sagt der Herr zu den Seinen. Dieser Freundschaft vertrauen wir uns an. Aber gerade weil das Christentum mehr ist als Moral eben das Geschenk einer Freundschaft darum trägt es in sich auch eine große moralische Kraft deren wir angesichts der Herausforderungen unserer Zeit so sehr bedürfen. Wenn wir mit Jesus Christus und mit seiner Kirche den Dialog vom Sinai immer neu lesen und in seine Tiefe eindringen, dann zeigt sich eine große gültige bleibende Weisung.
Ein Ja zu Gott, zu einem Gott der uns liebt, und uns führt der uns trägt und uns doch unsere Freiheit lässt, ja sie erst zur Freiheit macht - die ersten drei Gebote, ein ja zur Familie, viertes Gebot, ein Ja zum Leben - fünftes Gebot, ein Ja zu verantwortungsbewusster Liebe - sechstes Gebot, ein Ja zur Solidarität sozialen Verantwortung und Gerechtigkeit - siebentes Gebot, ein Ja zur Wahrheit - achtes Gebot und ein Ja zur Achtung anderer Menschen und dessen was ihnen gehört - neuntes und zehntes Gebot.
Aus der Kraft unserer Freundschaft mit dem lebendigen Gott heraus leben wir dieses vielfältige Ja und tragen es zugleich als Wegweisung in diese unsere Weltstunde hinein. Zeige uns Jesus! Mit dieser Bitte zur Mutter des Herrn haben wir uns hierher auf den Weg gemacht. Diese Bitte begleitet uns zurück in den Alltag hinein und wir wissen, dass Maria unsere Bitte erhört. Ja, wann immer wir zu Maria hinschauen zeigt sie uns Jesus. So können wir den rechten Weg finden, ihn Stück um Stück gehen, der getrosten Freude folgen, dass der Weg ins Licht führt in die Freude der ewigen Liebe hinein. Amen!

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20070906

Hilfen zur Meditation

Quelle und Literatur siehe unten.

Da Edith Stein lange Jahre nicht in den Karmel eintreten konnte, der ihr Raum zur Besinnung und Meditation geboten hätte, versuchte sie als berufstätige Frau, sich jene Atempausen in ihrem reich gefüllten Tagewerk zu schaffen, die sie für notwendig hielt. In einem Brief an berufstätige Frauen gab sie einige Anregungen, wie man innerlich still werden kann. Sie schreibt:
"Was wir tun können und müssen, ist... unsere ganze Seele aufnehmen - und formungsbereit in Gottes Hände legen. Damit hängt zunächst das Leer- und Stillwerden zusammen. Von Natur aus ist die Seele mannigfach erfüllt: so sehr, dass eins immer das andere verdrängt und in ständiger Bewegung, oft in Sturm und Aufruhr hält. Wenn wir morgens erwachen, wollen sich schon die Pflichten und Sorgen des Tages um uns drängen, falls sie nicht schon die Nachtruhe vertrieben haben. Da steigt die unruhige Frage auf: Wie soll das alles in einem Tag untergebracht werden? Wann werde ich dies, wann jenes tun? Und wie soll ich dies und das in Angriff nehmen? Man möchte gehetzt auffahren und los stürmen. Da heißt es, die Zügel in die Hand nehmen und sagen: Gemach! Vor allem darf jetzt gar nichts an mich heran. Meine erste Morgenstunde gehört dem Herrn."
(Sr. Teresia Renata de Spiritu Sancto, Edith Stein - eine große Frau unseres Jahrhunderts (Herder Bücherei) (Freiburg i. Br. 8/1962) S. 84f.)
Der Mensch lebt nicht aus Spontaneität allein. Jeder Psychologe und Pädagoge kann uns zeigen, dass wir Eindrücke, Vorstellungen, Wissen nur in uns aufnehmen, wenn diese Vorgänge sich wiederholen. Das gilt vor allem für personales Tun, für Liebe und Persönlichkeitsreifung. Täglich vollziehen wir, oft ohne es zu merken, die gleichen Handlungen der Hingabe, des Vertrauens, des Einsatzes. Wir geben ein gutes Wort, ein freundliches Lächeln, wir schenken Trost oder kämpfen gegen unsere Unlust, unseren Zorn, unser Rechthabenwollen. Dies alles sind, genau besehen, Einübungen. Gewiss keine, die wir nach Uhrzeit vollziehen. Da wir jedoch dazu neigen, uns leicht zu verausgaben, mehr zu tun als wir können, wäre es notwendig, dass wir doch ein wenig mit der Uhr in der Hand überlegen, wo wir Schweigepausen in unser Tagewerk einfügen können. Oft will uns die Müdigkeit davon abhalten, still zu werden. Wir wollen uns lieber durch irgendeinen Eindruck abreagieren. Zu diesem Zweck sind Atem- und Entspannungsübungen gut, um den müden Körper in die rechte Verfassung, das rechte Hören Gott gegenüber zu bringen.
Edith Stein erklärt, welche Kraft die Feier der Eucharistie gewähren kann, wie sie den Menschen innerlich weit und frei macht, leer von sich selbst, von seinen Sorgen. Stille und Freude, die dem Menschen in der Begegnung mit Gott geschenkt werden, zeigen ihm, dass er nicht aus eigener Kraft wirken kann, sondern dass Gott es ist, der ihn trägt.
Edith Stein beschreibt den Arbeitstag einer Lehrerin, einer Büroangestellten: "Nun beginnt das Tagewerk; vielleicht Schuldienst vier bis fünf Stunden hintereinander. Da heißt es, bei der Sache sein, jede Stunde bei einer anderen Sache. In dieser oder jener Stunde kann man nicht erreichen, was man wollte, vielleicht in keiner. Eigene Müdigkeit, unvorhergesehene Unterbrechungen, Unzulänglichkeit der Kinder, mancherlei Verdrießliches, Empörendes, Beängstigendes. Oder Bürodienst: Verkehr mit unangenehmen Vorgesetzten und Kollegen, unerfüllbare Ansprüche, ungerechte Vorwürfe, menschliche Erbärmlichkeit, vielleicht auch Not der verschiedensten Art. Es kommt die Mittagsstunde. Erschöpft, zerschlagen kommt man nach Hause. Da warten eventuell neue Anfechtungen. Wo ist nun die Morgenfrische der Seele? Wieder möchte es gären und stürmen: Empörung, Ärger, Reue. Und so viel noch zu tun bis zum Abend! Muss man nicht sofort weiter? Nein, nicht ehe wenigstens für einen Augenblick Stille eingetreten ist.
Jede muss sich selbst kennen oder kennen lernen, um zu wissen, wo und wie sie Ruhe finden kann. Am besten, wenn sie es kann, wieder eine kurze Zeit vor dem Tabernakel alle Sorgen ausschütten. Wer das nicht kann, wer vielleicht auch notwendig etwas körperliche Ruhe braucht, eine Atempause im eigenen Zimmer. Und wenn keinerlei äußere Ruhe zu erreichen ist, wenn man keinen Raum hat, in den man sich zurückziehen kann, wenn unabweisliche Pflichten eine stille Stunde verbieten, dann wenigstens innerlich für einen Augenblick sich gegen alles andere abschließen und zum Herrn flüchten. Er ist ja da und kann uns in einem einzigen Augenblick geben, was wir brauchen. So wird es den Rest des Tages weitergehen, vielleicht in großer Müdigkeit, aber in Frieden. Und wenn die Nacht kommt und der Rückblick zeigt, dass alles Stückwerk war und vieles ungetan geblieben ist, was man vorhatte, wenn so manches tiefe Beschämung und Reue weckt: dann alles nehmen, wie es ist, es in Gottes Hände legen und ihm überlassen. So wird man in ihm ruhen können, wirklich ruhen und den neuen Tag wie ein neues Leben beginnen."
In diesen Ratschlägen zeigt Edith Stein eine Meditationsmethode, die jeder anwenden kann. Wichtig ist für sie das Leer- und Stillwerden vor Gott. Um dies zu erreichen, muss man Gewalt gebrauchen, d.h. auch 'Nein' sagen können zu äußeren Umständen, die uns bedrängen, zu Aufgaben, die auf uns lasten, zu inneren Problemen und Unsicherheiten. Das Befreiende, das die Meditation schenkt, ist, dass wir einmal alles loslassen, nicht mehr um uns selbst kreisen, sondern um einen andern, um ein Gegenüber.
Es gibt Menschen, die psychologisch um die reinigende und befreiende Kraft einer Schweige -  Übung wissen, einer Konzentration auf das Nichtdenken, auf die Stille. Als Christen üben wir Schweigemeditation, Leerwerden nicht in erster Linie um dieser Seelenhygiene willen, die sicher nützlich ist, sondern um besser zu erfahren, wer Gott ist, was er von uns will, was der Sinn unseres Lebens ist. Wird dadurch unser Inneres frei, elastisch, anpassungsfähig mitten in mancher Bedrängnis, dann nehmen wir diese Frucht der Meditation gern an. Entscheidend ist, dass wir in der Stille lernen, mit einer Person umzugehen. Eine mit anderen verbrachte Zeit der Stille, in der wir wissen, wir sind vor Gott und in Gott da, hilft uns oft mehr zu gegenseitigem Verstehen, als wenn wir uns angestrengt hätten, viele Gebete zu sprechen.
Oft sind wir gar nicht fähig, irgend etwas zu Gott zu sagen. Wir sehnen uns einfach nach seiner Nähe, wollen bei ihm sein. Friede durchdringt uns, wir fühlen uns wie neugeboren. Dieser Friede gibt uns Kraft, auch in dunklen Stunden auszuhalten, in denen wir Gott nicht fühlen, vielleicht an seiner Liebe, seiner Existenz zweifeln. Auch in dieser Anfechtung sollte man die stille Meditation nicht aufgeben. Wir beten ja nicht, um von Gott befriedigt zu werden, sondern um ihm etwas zu schenken. Die Erfahrung inneren Friedens bewirkt, dass wir uns hergeben und uns weniger wichtig nehmen. Wir kommen über unsere Fehler und Schwächen, über die Art, wie Menschen uns behandeln - ob mit Achtung oder Verachtung - leichter hinweg. Nicht, weil wir die Dinge nicht ernst nehmen, sondern weil wir in der Stille erfahren, wo die wahren Werte des Lebens liegen.
Zu Beginn werden es vielleicht nur kleine Minuten sein, aus denen dann Viertel- oder Halbestunden werden, in denen wir im Tagesablauf einmal ganz allein mit uns, mit Gott sein können. Zunächst wird uns dieses Innehalten im Betrieb des Berufslebens schwer fallen. Je mehr wir jedoch diese Pausen bewusst einlegen, je stärker wir auch den Körper, den Atem an dieser Stille teilnehmen lassen, um so vertrauter wird uns diese Übung.
Edith Stein betont, dass jeder den Weg für sich herausfinden muss, der für ihn der geeignete ist. "Es wird eine wesentliche Aufgabe jeder einzelnen sein," schreibt sie, "zu überlegen, wie sie nach ihrer Veranlagung und ihren jeweiligen Lebensverhältnissen ihren Tages- und Jahresplan gestalten muss, um dem Herrn die Wege zu bereiten. Die äußere Einteilung wird bei jeder anders sein und auch im Lauf der Zeit sich dem Wechsel der Umstände elastisch anpassen müssen. Aber auch die seelische Situation ist bei den verschiedenen Menschen verschieden. Von den Mitteln, die geeignet sind, die Verbindung mit dem Ewigen herzustellen, wach zuhalten oder auch neu zu beleben - Betrachtung, geistliche Lesung, Teilnahme an der Liturgie, an Andachten -, sind nicht alle für jeden und zu allen Zeiten gleich fruchtbar. Die Betrachtung z.B. kann nicht von allen und immer auf die gleiche Weise geübt werden. Es ist wichtig, das jeweils Wirksamste herauszufinden und sich zunutze zu machen." Edith Stein weist also darauf hin, dass unter verschiedenen Menschen verschiedene Formen des Betens und Meditierens bestehen können und müssen.
Die Heiligen und geistlichen Lehrer betonen, dass mystisches Leben ein Sich-Einlassen ist auf die Nähe des lebendigen Gottes. Gott ist nicht der Alleinwirkende. Er nimmt das Tun des Menschen ernst. Der im Glauben von ihm Ergriffene müht sich unablässig, in Gebet und Meditation der göttlichen Nähe bewusst zu werden. Von diesem Bewusstsein hängt sein inneres Glück ab, seine Identität als Christ. Auch Leiden und Schwierigkeiten können den, der vor Gott verweilt im letzten nicht verunsichern, sondern werden ihm Weg sein zu einer eigenen unverwechselbaren Gotteserfahrung.
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Quelle und Literaturhinweis:
Verweilen vor Gott
Waltraud Herbstrith
(Teresia a Matre Dei)
Basel, Wien 1977
S.101-106
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 Brief Edith Steins an Papst Pius XI,
 gefunden auf Shoa.de
4. 12. 1933

 Heiliger Vater!

Als ein Kind des jüdischen Volkes, das durch Gottes Gnade seit elf Jahren ein Kind der katholischen Kirche ist, wage ich es, vor dem Vater der Christenheit auszusprechen, was Millionen von Deutschen bedrückt.

Seit Wochen sehen wir in Deutschland Taten geschehen, die jeder Gerechtigkeit und Menschlichkeit – von Nächstenliebe gar nicht zu reden – Hohn sprechen. Jahre hindurch haben die nationalsozialistischen Führer den Judenhass gepredigt. Nachdem sie jetzt die Regierungsgewalt in ihre Hände gebracht und ihre Anhängerschaft – darunter nachweislich verbrecherische Elemente – bewaffnet hatten, ist diese Saat des Hasses aufgegangen. Dass Ausschreitungen vorgekommen sind, wurde noch vor kurzem von der Regierung zugegeben. In welchem Umfang, davon können wir uns kein Bild machen, weil die öffentliche Meinung geknebelt ist. Aber nach dem zu urteilen, was mir durch persönliche Beziehungen bekannt geworden ist, handelt es sich keineswegs um vereinzelte Ausnahmefälle. Unter dem Druck der Auslandsstimmen ist die Regierung zu 'milderen' Methoden übergegangen. Sie hat die Parole ausgegeben, es solle „keinem Juden ein Haar gekrümmt werden“. Aber sie treibt durch ihre Boykotterklärung – dadurch, dass sie den Menschen wirtschaftliche Existenz, bürgerliche Ehre und ihr Vaterland nimmt – viele zur Verzweiflung: es sind mir in der letzten Woche durch private Nachrichten 5 Fälle von Selbstmord infolge dieser Anfeindungen bekannt geworden. Ich bin überzeugt, dass es sich um eine allgemeine Erscheinung handelt, die noch viele Opfer fordern wird. Man mag bedauern, dass die Unglücklichen nicht mehr inneren Halt haben, im ihr Schicksal zu tragen. Aber die Verantwortung fällt doch zum großen Teil auf die, die sie so weit brachten. Und sie fällt auch auf die, die dazu schweigen.

Alles, was geschehen ist und noch täglich geschieht, geht von einer Regierung aus, die sich „christlich“ nennt. Seit Wochen warten und hoffen nicht nur die Juden, sondern Tausende treuer Katholiken in Deutschland – und ich denke, in der ganzen Welt – darauf, dass die Kirche Christi ihre Stimme erhebe, um diesem Missbrauch des Namens Christi Einhalt zu tun. Ist nicht diese Vergötzung der Rasse und der Staatsgewalt, die täglich durch Rundfunk den Massen eingehämmert wird, eine offene Häresie? Ist nicht der Vernichtungskampf gegen das jüdische Blut eine Schmähung der allerheiligsten Menschheit unseres Erlösers, der allerseligsten Jungfrau und der Apostel? Steht nicht dies alles im äußersten Gegensatz zum Verhalten unseres Herrn und Heilands, der noch am Kreuz für seine Verfolger betete? Und ist es nicht ein schwarzer Flecken in der Chronik dieses Heiligen Jahres, das ein Jahr des Friedens und der Versöhnung werden sollte?

Wir alle, die wir treue Kinder der Kirche sind und die Verhältnisse in Deutschland mit offenen Augen betrachten, fürchten das Schlimmste für das Ansehen der Kirche, wenn das Schweigen noch länger anhält. Wir sind der Überzeugung, dass dieses Schweigen nicht imstande sein wird, auf die Dauer den Frieden mit der gegenwärtigen deutschen Regierung zu erkaufen. Der Kampf gegen den Katholizismus wird vorläufig noch in der Stille und in weniger brutalen Formen geführt wie gegen das Judentum, aber nicht weniger systematisch. Es wird nicht mehr lange dauern, dann wird in Deutschland kein Katholik mehr ein Amt haben, wenn er sich nicht dem neuen Kurs bedingungslos verschreibt.

Zu Füßen Eurer Heiligkeit, um den Apostolischen Segen bittend (handschriftlich) Dr. Editha Stein
Dozentin am Deutschen Institut für wissenschaftliche Pädagogik Münster i.W. Collegium Marianum
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Abschließend noch zwei Zitate von Edith Stein:

"Wenn der Verstand sein Äußerstes wagt,
dann kommt er an seine eigenen Grenzen.
Er zieht aus, um die höchste und letzte Wahrheit zu finden,
und entdeckt, dass all unser Wissen Stückwerk ist."

"Wer die Wahrheit sucht, der sucht Gott,
ob es ihm klar ist oder nicht."

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Ein Foto von Edith Stein
sowie Ausführlicheres zu ihrer Biografie
finden sie hier im Heiligenlexikon.

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Von Gott betroffen, Edith Stein

Quelle und Literatur siehe unten.

Hören wir nicht oft, auch von christlicher Seite, der Mensch sei zu einer echten Gotteserfahrung, zum Erleben der Transzendenz nicht mehr fähig? Wie rasch ist man philosophisch, theologisch oder psychologisch der Auffassung, diese Erfahrungen gehörten in den Bereich des Mythos. Nach Ansicht des Theologen Josef Ratzinger sind solche Urteile übereilt und können leicht durch glaubwürdige Zeugnisse vieler Männer und Frauen widerlegt werden.
Der Lebensweg Edith Steins bietet uns ein Modell, wie auch wir Menschen des 21. Jahrhunderts, durch alle Anfechtungen und Wirrnisse hindurch, den erfahren können, der unser Herz unruhig gemacht hat, damit es ruhe in ihm (Augustinus). Die Etappen Edith Steins geistig-seelischer Entwicklung sprechen den modernen Gottsucher an: Jüdin - Atheistin - Studentin - Rote-Kreuz-Schwester - Philosophin - Konvertitin - Lehrerin -Wissenschaftlerin und Rednerin in Frauenfragen - Dozentin an einer pädagogischen Hochschule und zuletzt Karmelitin und Martyrin für ihr Volk in den Gaskammern von Auschwitz. Das ist der Lebensweg eines Menschen, der sich an den Fragen unserer Zeit nicht vorbei gedrückt hat, der offen war für die Ansprüche und Nöte unserer Gesellschaft, der ganze Arbeit geleistet hat und nach Wegen Ausschau hielt, nach denen unsere Zukunft menschlicher und sinnvoller gestaltet werden kann. Wenn wir Edith Stein fragen könnten, aus welcher Grundhaltung heraus sie dieses reiche Lebensprogramm bis zu ihrem Tod entfaltete, so würde sie uns wohl als erstes ihre unerbittliche Suche nach Wahrheit, nach dem Sinn des Lebens nennen. Als sie als junger Mensch den Glauben an einen die Welt transzendierenden Gott noch ablehnte, geschweige denn eine Erfahrung von ihm hatte, bemühte sie sich, wahrhaftig, selbstlos und sozial zu sein. Wahrhaftig, indem sie es verabscheute, um eines Vorteils willen Unwahres zu sagen oder zu tun. Sie nannte sich Atheistin, weil der Gott ihres jüdischen Glaubens für sie nicht existierte. Sie verhielt sich selbstlos und sozial, indem sie sich als Schülerin und Studentin mitfühlend und helfend für andere einsetzte. Früh wurde sie in ihrer Familie und von Freunden um Rat gefragt und wegen der Festigkeit ihres Charakters geschätzt.
Und doch fehlte der jungen Studentin etwas Wesentliches. Sie war bescheiden, aber auch selbstsicher. Sie war freundlich und hilfsbereit, aber auch gewohnt, dass man zu ihr aufschaute, dass sie etwas zu geben hatte. Sie war innerlich einsam und hungerte nach einem Lebenssinn. Dass ihr dieser fehlte, ging ihr erschreckend auf beim Psychologiestudium in Breslau (1911). Die Psychologie jener Zeit war eine 'Psychologie ohne Seele'. Sie überließ es dem einzelnen, ob er sich hinter den Sinneswahrnehmungen eine geistige Einheit, einen Sinn, eine Seele vorstellen wollte oder nicht. In ihrer Not stieß Edith Stein auf die Schriften des bedeutenden jüdischen Philosophen Edmund Husserl. Husserl bemühte sich um eine Wiederentdeckung des Geistes. Er forschte nach innerer Wesenserkenntnis, nach dem Sein der Dinge. Dadurch erzog er seine Schüler zur Ehrfurcht vor objektiven Werten, zur Vorurteilslosigkeit in der Betrachtung der Phänomene des menschlichen Daseins. Edith Stein erhoffte sich von Husserls Methode eine Antwort auf ihre Fragen und wechselte an die Universität Göttingen über. Sie wurde eine der treuesten Schülerinnen des Meisters, erkannte aber, dass auch Husserl im letzten keine Antwort auf die Wahrheitsfrage hatte. Die Philosophie als strenge Wissenschaft, wie Husserl sie betrieb, war wie alles Menschliche Bruchstück und mit Irrtümern behaftet. Edith Stein war radikaler als Husserl. Sie wollte nicht im Subjektiven, im Reich der Ideen stehen bleiben, sie wollte ernst machen mit der Objektivität der Dinge.
Zwei Begegnungen in Göttingen führten die Suchende an die Schwelle einer neuen Welt - der Welt des Glaubens. Max Scheler, ein konvertierter Jude, hielt 1913 Vorlesungen über die Schönheit der katholischen Glaubenswelt. Zum ersten mal in ihrem Leben hörte Edith Stein etwas über Begriffe wie: Heiligkeit, Demut, Reinheit. Sie bekennt, dass diese Welt ihr unbekannt war, aber sie wollte sich diesen neuen Eindrücken sachlich und hörend stellen. Dem Glauben öffnete sie sich nicht, aber sie entdeckte, dass es Werte gab, an denen sie nicht einfach blind vorbeigehen konnte. Über die Schwelle des Glaubens führte sie eine zweite Begegnung, die Bekanntschaft mit dem Husserl-Schüler Adolf Reinach. Dieser zur evangelischen Kirche konvertierte Philosoph, der in seiner Umgebung einen unvergesslichen Eindruck hinterlassen hat, führte Edith Stein zu einer Erfahrung, die die Grenzen der natürlichen Vernunft überstieg. Sie sagte darüber: „Ich war nach dieser ersten Begegnung (mit Reinach) sehr glücklich und von einer tiefen Dankbarkeit erfüllt. Es war mir, als sei mir noch nie ein Mensch mit einer so reinen Herzensgüte entgegengekommen. Dass die nächsten Angehörigen und Freunde, die einen jahrelang kennen, einem Liebe erweisen, schien mir selbstverständlich. Aber hier lag etwas ganz anderes vor. Es war wie ein erster Blick in eine ganz neue Welt."
Man kann hier von einer ersten Gotteserfahrung Edith Steins sprechen. Gott offenbarte sich ihr durch die Liebe und Güte eines Menschen als der ganz Andere und doch ganz Nahe. Ihr Blick in die neue Welt vertiefte sich durch eine Erfahrung, die ihr bewies, wie sich die Liebe Gottes mitteilen kann und wie sie es einmalig getan hat im Todesleiden und in der Auferstehung Christi.
Im Jahre 1917 fiel Reinach in Flandern. Wie alle seine Freunde, war auch Edith Stein tief getroffen. Sie dachte vor allem an das Leid der jungen Witwe. Sie wurde gebeten, den Nachlass des Gefallenen zu ordnen, und erklärte sich sofort dazu bereit. Aber sie hatte Angst vor der Begegnung mit Frau Reinach. Sie wusste nicht, was sie ihr zum Troste sagen sollte, weil sie nicht an ein ewiges Leben glaubte. Sie stellte sich Frau Reinach ebenso verzweifelt vor, wie sie selbst es war. Zu ihrer Überraschung war die Witwe keineswegs zerbrochen. Die schwer geprüfte Frau war kraft ihres christlichen Glaubens noch fähig, die Ungläubige und Zweifelnde zu trösten. Dieses Erlebnis überwältigte Edith Stein. Vor dem Anblick dieser von Hoffnung erfüllten Frau fielen ihre rationalistischen Vorurteile zusammen. Es ging ihr auf, dass nicht wissenschaftliche Erkenntnis den Menschen verwandelt, sondern ein Angerührtwerden von der Wahrheit selbst.
Diese Erfahrung Gottes prägte sich ihr so tief ein, dass sie noch kurz vor ihrem Sterben sagen konnte: "Es war dies meine erste Begegnung mit dem Kreuz und der göttlichen Kraft, die es seinen Trägern mitteilt. Ich sah zum ersten mal die aus dem Erlöserleiden geborene Kirche in ihrem Siege über den Stachel des Todes handgreiflich vor mir. Es war der Augenblick, in dem mein Unglaube zusammenbrach und Christus aufstrahlte, Christus im Geheimnis des Kreuzes."
Nun begann in Edith Stein ein heftiger Kampf. Gott selbst hatte das Innere der Ungläubigen angerührt; diese Erfahrung war so unmittelbar und lebendig, dass keine Argumentation der Vernunft sie hinweg disputieren konnte. Aber der Mensch hat nicht nur Vernunft, sondern auch Willen, der alles, was die Vernunft ihm nahe legt, ablehnen kann.
Dieses Geheimnis der Willensfreiheit fasste Edith Stein in die Worte: "Ein überzeugter Atheist wird in einem religiösen Erlebnis der Existenz Gottes inne. Dem Glauben kann er sich nicht entziehen, aber er stellt sich nicht auf seinen Boden, er lässt ihn nicht in sich wirksam werden, er bleibt unbeirrbar bei seiner wissenschaftlichen Weltanschauung, die durch den Glauben über den Haufen geworfen würde."
(Edith Stein, Beiträge zur philosophischen Begründung der Psychologie und phänomenologische Forschung Bd V (Halle 1922) S. 43)
Mit psychologischer Schärfe beschreibt sie eine seelische Verfassung, die auch immer wieder die unsere ist. Wir stellen uns nicht den Konsequenzen, die sich aus den Erfahrungen, die wir mit Gott machen, ergeben. Wir handeln, als gäbe es diese Erfahrungen nicht, und suchen sie durch irgendeine vordergründige Sache zu verdecken.
Von 1917 bis 1921 rang Edith Stein mit diesem Zwiespalt, den sie mit einem 'Todesschatten' verglich. Sie begann, das Neue Testament zu lesen, und fragte sich, ob sie evangelisch oder katholisch werden sollte. Doch ihr Wille blieb gelähmt. Da geschah etwas Unerwartetes. Als sie zu einem Besuch bei ihrer Freundin Hedwig Conrad-Martius weilte, fand sie im Bücherschrank die Autobiographie Teresas von Ävila. Sie las sie in einem Zug, und als sie nach einer durchwachten Nacht das Buch schloss, sagte sie: "Das ist die Wahrheit."
Edith Stein hatte ihr eigenes Ringen, ihre Nöte und Fragen im Werk der großen Spanierin wiedergefunden. Teresa von Ävila, die 1970 von Papst Paul VI. zur Kirchenlehrerin ernannt wurde, zeigte Edith Stein in meisterhafter Weise, dass wir weder Gott noch uns treu sein können, wenn wir nicht Antwort geben auf die Erfahrung Gottes. Gott ruft nicht, damit wir schlafen, sondern damit wir, als sprechende Wesen erschaffen, wach werden. Glauben war für Teresa nicht Fürwahrhalten der Existenz Gottes oder vorgelegter Glaubensartikel, sondern eine personale Beziehung zwischen Mensch und Gott. Unermüdlich mahnt sie, das Gespräch mit Gott, mit Jesus Christus zu üben. Beten war für sie nicht Hersagen von Worten, sondern Freundschaft, Erfahrung der göttlich-menschlichen Liebe.
Teresa half Edith Stein zu neuer Tatkraft, sie fühlte sich im Innersten verstanden. Am 1. Januar 1922 empfing Edith Stein die Taufe und hatte keinen anderen Wunsch mehr, als in den Karmel Teresas einzutreten. Ihre Freunde aber verstanden ihre Gotteserfahrung nicht. Staunend sahen sie Edith Stein in den Kirchen von Speyer oder Beuron stundenlang beten und meinten, das sei doch sehr viel. Sie forderten sie auf, ihre Begabung in den Dienst der Menschen zu stellen und nicht hinter Klostermauern zu verschwinden. Priester rieten ihr dasselbe. Edith Stein schwieg und gehorchte, nicht zuletzt deshalb, weil ihre streng gläubige jüdische Mutter zwei Schicksalsschläge auf einmal - Konversion und Klostereintritt - nicht ertragen hätte.
In zehn arbeitsreichen Jahren als Pädagogin, Übersetzerin des hl. Thomas von Aquin und Rednerin in Frauenfragen lernte Edith Stein, was es heißt, ja zu sagen zur Erfahrung Gottes und sich dennoch ausgeschlossen zu fühlen vom eigentlichen Berufsziel. Sie war sehr sparsam mit Worten über das, was sie von Gott erfuhr. Doch sie stellte fest, sie fühle sich seit ihrer Konversion wie 'verwandelt'. Ohne es zu wissen, gebrauchte sie einen Ausdruck der mystischen Terminologie. Paulus, Augustinus, Teresa von Ävila, Theresia von Lisieux, Charles de Foucauld und andere sprachen über ihre Beziehung zu Gott in ähnlichen Worten. Indirekt, aus Briefen oder Schriften, können wir ahnen, wie intensiv Edith Stein die Freundschaft mit Gott gelebt hat, wie sehr es Geben und Nehmen war. Freunde und Schülerinnen spürten ihre Ausstrahlung, ihre Hingabefähigkeit, ihr radikales Ernstmachen mit der Botschaft Christi. In einem ihrer Vorträge sagte sie: "Es ist ein weiter Weg von der Selbstzufriedenheit eines guten Katholiken, der seine Pflichten erfüllt, eine gute Zeitung liest, richtig wählt, im übrigen aber tut, was ihm beliebt, bis zu einem Leben an Gottes Hand, in der Einfalt des Kindes und der Demut des Zöllners. Aber wer ihn einmal gegangen ist, wird ihn nicht wieder zurückgehen."
(Edith Stein, Das Weihnachtsgeheimnis (Selbstverlag Karmel Köln 1950) S. 13)
Die Einfalt des Kindes und die Demut des Zöllners machten Edith Stein nicht infantil oder weltfremd. Sie füllte ihren Platz als berufstätige Frau voll aus und suchte durch Pläne für eine Schulreform sowie neue Wege in der Frauenerziehung die Frau in die moderne Gesellschaft zu integrieren.
1933 verhalfen die Nationalsozialisten Edith Stein - ohne es zu wollen - zu ihrem eigentlichen Lebensziel. Nachdem ihr durch die Nichtarier-Gesetze eine weitere Tätigkeit am Institut für wissenschaftliche Pädagogik in Münster unmöglich gemacht wurde, trat sie im Herbst 1933 in den Kölner Karmel ein. Mehrmals hätte sie Gelegenheit gehabt, ins Ausland zu fliehen, doch sie wollte  in der Nähe ihres leidenden jüdischen Volkes bleiben. Häufig sprach sie zu Besuchern vom inneren Frieden, den sie im Karmel gefunden hatte. Edith Stein war ihren Schwestern eine gute Gefährtin. Die Freude ihrer Begegnung mit Gott machte sie fähig, das schwere Schicksal ihres Volkes mitzuleiden, ohne bitter zu werden. Sie wusste, dass sie im Karmel nicht sicher war. Nicht umsonst wählte sie den Ordensnamen: die vom Kreuz Gesegnete - Teresia Benedicta a Cruce. Sie hatte erfahren, welche Kraft das Kreuz denen mitteilt, die es um Christi willen auf sich nehmen. Je dunkler es um sie wurde, desto stärker wusste sie sich geborgen im Licht Gottes.
Nach den Ausschreitungen gegen die Juden im Pogrom ('Reichskristallnacht') 1938 wollte sie den Kölner Karmel nicht länger gefährden und nahm die Einladung des Karmels in Echt/Holland gerne an. Hier schrieb sie, nachdem sie bereits in Köln die philosophisch-theologische Studie 'Endliches und Ewiges Sein' verfasst hatte, eine Analyse der mystischen Lehre ihres Ordensvaters Johannes vom Kreuz. Darin lesen wir: "Die bräutliche Vereinigung der Seele mit Gott ist das Ziel, für das sie geschaffen ist, erkauft durch das Kreuz, vollzogen am Kreuz und für alle Ewigkeit mit dem Kreuz besiegelt."
(Edith Stein, Kreuzeswissenschaft. Studie über Joannes a Cruce, Edith Steins Werke Bd 1 (Louvain - Freiburg i. Br. 2/1954) S. 241)
Dies war keine fromme Redensart, Edith Stein lebte jedes ihrer Worte bis zu ihrer eigenen seelischen und körperlichen Kreuzigung. Wir wissen, wie sie in den Tod ging. Ruhig und gefasst nahm sie bei der Verhaftung in Echt die Hand ihrer Schwester Rosa und sagte im Angesicht der SS-Schergen: "Komm, wir gehen für unser Volk."
(Kölner Selig- und Heiligsprechungsprozess (Articuli) der Dienerin Gottes Sr. Teresia Benedicta a Cruce (Edith Stein). 1962, S. 92)
Edith Stein ging in die Verhaftung mit der ganzen Liebe und Opferbereitschaft ihres Herzens. Im Sammellager Westerbork dachte sie an die andern, nicht an sich. Sie half und tröstete. Ein Beamter berichtete, inmitten der grauenhaften Situation sei ein Gespräch mit ihr wie „eine Reise in eine andere Welt" gewesen.
Am 9. August 1942 ist Edith Stein mit ihren jüdischen Brüdern und Schwestern den Vergasungstod gestorben. Aus dieser Vernichtung ist Licht aufgegangen, das allen leuchtet, die es sehen wollen. Edith Steins Leben sagt uns: Gott ist da, er lebt mitten unter uns, er lässt sich erfahren, auch durch alle Untergänge hindurch.

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Quelle und Literaturhinweis:
Verweilen vor Gott
Waltraud Herbstrith
(Teresia a Matre Dei)
Basel, Wien 1977
S. 93-101
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20070904

Einfuehrung in das Christentum


Eine sehr kurze Schilderung des Werdegangs von Joseph Ratzinger:
Biografie

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Der Hans im Glück aus dem Märchen tauscht seinen Goldklumpen gegen minderes Zeug. Hat Theologie sich in den letzten Jahren nicht vielfach auf einen ähnlichen Weg begeben?
Der Christ als Hans im Glueck?
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Ein warnender Clown wird nicht ernst genommen. Genügt der geistige Kostümwechsel, damit die Menschen freudig herbei laufen und mithelfen, den Brand zu löschen, von dem der Theologe behauptet, dass es ihn gebe und dass er unser aller Gefahr sei?
Zweifel und Glaube
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Was bedeutet dieses "Ich glaube" (Credo)? Welche Zugänge zum 'Wirklichen' haben wir? Ist es bloßes Denken oder auch mit Entscheidungen verbunden? Kann uns Glaube 'auf die Sprünge' helfen?
Der Sprung des Glaubens
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Unsichtbar - sichtbar, gestern - heute, Tradition - Fortschritt, mit was hat es christlicher Glaube zu tun? Ist inmitten eines relativierenden Weltbildes der christliche Glaube nur ein törichter Traum?
Das Dilemma des Glaubens
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Was ist die Funktion des nicht-naturwissenschaftlichen Denkens? Was ist für uns als wahr erkennbar? Was können wir wahrhaft wissen bzw. wahrhaft verstehen? Wo ist der geistige Standort des modernen Menschen und wo ist der Ort des Glaubens?
Wirklichkeitsverständnis und Glauben
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Wie ist Glaube beschrieben? Was kann Inhalt des Glaubens sein? Was für eine Art von Verhalten ist 'glauben'. Glauben nur 'Gläubige'? Wohin verweist christlicher Glaube?
Glaube als Stehen und Verstehen
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Was drückt das Wörtchen 'Amen' aus und was drückt sich im Wörtchen 'Amen' aus? Wo ist der Boden auf dem wir stehen und wie öffnet sich Verstehen?
Die Vernunft des Glaubens
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Was ist die zentrale Formel christlichen Glaubens? Was kann der Glaube finden? Wie hängt der Glaube mit der Liebe zusammen? Was ist 'der Sinn'?
Ich glaube an Dich - Das Du
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Ich glaube an Dich


Mit allem Gesagten ist freilich der tiefste Grundzug christlichen Glaubens noch immer nicht ausgesprochen : sein personaler Charakter. Der christliche Glaube ist mehr als Option für einen geistigen Grund der Welt, seine zentrale Formel lautet nicht: 'Ich glaube etwas', sondern 'Ich glaube an Dich'.

Vgl. H. Fries, Glauben - Wissen, Berlin 1960, besonders 84-95; J. Mouroux, Ich glaube an Dich, Einsiedeln 1951; C. Cirne-Lima, Der personale Glaube, Innsbruck 1959.

Er ist Begegnung mit dem Menschen Jesus und erfährt in solchem Begegnen den Sinn der Welt als Person. In Jesu Leben aus dem Vater, in der Unmittelbarkeit und Dichte seines betenden, ja, sehenden Umgangs mit ihm ist er der Zeuge Gottes, durch den hindurch der Unberührbare berührbar, der Ferne nahe geworden ist. Und mehr: Er ist nicht bloß der Zeuge, dem wir glauben, was er geschaut hat in einer Existenz, die wahrhaft die Wende vollzogen hatte von der falschen Bescheidung aufs Vordergründige in die Tiefe der ganzen Wahrheit hinein; nein, er ist die Anwesenheit des Ewigen selbst in dieser Welt. In seinem Leben, in der Vorbehaltlosigkeit seines Seins für die Menschen, ist der Sinn der Welt Gegenwart, er gewährt sich uns als Liebe, die auch mich liebt und mit solch unfasslichem Geschenk einer von keiner Vergänglichkeit, keiner egoistischen Trübung bedrohten Liebe das Leben lebenswert macht. Der Sinn der Welt ist das Du, freilich nur jenes, das nicht selbst offene Frage, sondern der keines anderen Grundes bedürfende Grund des Ganzen ist.

So ist der Glaube das Finden eines Du, das mich trägt und in aller Unerfülltheit und letzten Unerfüllbarkeit menschlichen Begegnens die Verheißung unzerstörbarer Liebe schenkt, die Ewigkeit nicht nur begehrt, sondern gewährt. Christlicher Glaube lebt davon, dass es nicht bloß objektiven Sinn gibt, sondern dass dieser Sinn mich kennt und liebt, dass ich ihm mich anvertrauen kann mit der Gebärde des Kindes, das im Du der Mutter all sein Fragen geborgen weiß. So ist Glaube, Vertrauen und Lieben letztlich eins, und alle Inhalte, um die der Glaube kreist, sind nur Konkretisierungen der alles tragenden Wende, des 'Ich glaube an Dich' - der Entdeckung Gottes im Antlitz des Menschen Jesus von Nazareth.

Freilich hebt dies das Nachdenken nicht auf - das haben wir oben bereits gesehen. "Bist du es wirklich?" - das hat schon Johannes der Täufer angstvoll in einer dunklen Stunde gefragt, der Prophet also, der seine Jünger selbst zum Rabbi aus Nazareth gewiesen und ihn als den Größeren bekannt hatte, für den er nur Vorbereitungsdienste leisten konnte. "Bist Du es wirklich?" Der Glaubende wird immer wieder jenes Dunkel erleben, in dem der Widerspruch des Unglaubens ihn wie ein düsteres, unentrinnbares Gefängnis umgibt und die Gleichmütigkeit der Welt, die unverändert weitergeht, als ob nichts geschehen wäre, nur Hohn auf seine Hoffnung zu sein scheint. Bist du es wirklich - diese Frage müssen wir nicht nur stellen aus der Redlichkeit des Denkens heraus und wegen der Verantwortung der Vernunft, sondern auch aus dem inneren Gesetz der Liebe, die den mehr und mehr erkennen möchte, dem sie ihr Ja gegeben, um ihn mehr lieben zu können. Bist du es wirklich - alle Überlegungen dieses Buches sind letztlich dieser Frage zugeordnet und kreisen so um die Grundform des Bekenntnisses: Ich glaube an Dich, Jesus von Nazareth, als den Sinn ('Logos') der Welt und meines Lebens.


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Literatur und Quellenhinweis:

Joseph Ratzinger
Einführung in das Christentum

Vorlesungen über das Apostolische Glaubensbekenntnis
München, 1968

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Die Vernunft des Glaubens


Wenn man das alles bedenkt, wird man feststellen, wie eng das erste und das letzte Wort des Credo -  das 'Ich glaube' und das 'Amen' - ineinanderklingen, das Gesamt der einzelnen Aussagen umgreifen und so den inneren Ort für alles, was dazwischen steht, angeben. Im Zweiklang von 'Credo' und 'Amen' wird der Sinn des Ganzen sichtbar, die geistige Bewegung, um die es geht. Wir hatten vorhin festgestellt, das Wort Amen gehöre im Hebräischen dem gleichen Wortstamm zu, dem auch das Wort 'Glauben' entnommen ist. 'Amen' sagt so auf seine Weise nur noch einmal, was Glauben heißt: das vertrauende Sichstellen auf einen Grund, der trägt, nicht weil ich ihn gemacht und nachgerechnet habe, sondern vielmehr eben darum, weil ich ihn nicht gemacht habe und nicht nachrechnen kann. Er drückt das Sichüberlassen an das aus, was wir weder machen können noch zu machen brauchen, an den Grund der Welt als Sinn, der mir die Freiheit des Machens allererst eröffnet. Dennoch ist, was hier geschieht, nicht ein blindes Sich ausliefern ins Irrationale hinein. Im Gegenteil - es ist Zugehen auf den 'Logos', auf die 'Ratio', auf den Sinn und so auf die Wahrheit selbst, denn am Ende kann und darf der Grund, worauf der Mensch sich stellt, kein anderer als die sich eröffnende Wahrheit selber sein. Damit stoßen wir an einer Stelle, an der wir es am wenigsten vermuten möchten, nochmal auf eine letzte Antithese zwischen Machbarkeitswissen und Glauben. Das Machbarkeitswissen muss - wir sahen es schon - von seinem eigensten Wollen her positivistisch sein, sich auf das Gegebene und Messbare begrenzen. Das aber hat zur Folge, dass es nicht mehr nach Wahrheit fragt. Es erzielt seine Erfolge gerade durch den Verzicht auf die Frage nach der Wahrheit selbst und durch die Bescheidung auf die 'Richtigkeit', auf die 'Stimmigkeit' des Systems, dessen hypothetischer Entwurf sich im Funktionieren des Experiments bewähren muss Das Machbarkeitswissen fragt, um es nochmal anders zu sagen, nicht nach den Dingen, wie sie an sich und in sich sind, sondern allein nach ihrer Funktionalisierbarkeit für uns. Die Wende zum Machbarkeitswissen ist genau dadurch erzielt worden, dass man das Sein nicht mehr in sich selbst betrachtet, sondern lediglich in Funktion zu unserem Werk. Das bedeutet, dass in der Ablösung der Wahrheitsfrage vom Sein und in ihrer Verlagerung auf das Faktum und Faciendum der Wahrheitsbegriff selbst wesentlich verändert worden ist. An die Stelle der Wahrheit des Seins in sich ist die Brauchbarkeit der Dinge für uns getreten, die sich in der Richtigkeit der Ergebnisse bestätigt. Daran ist zutreffend und unwiderruflich, dass nur diese Richtigkeit sich uns als Berechenbarkeit gewährt, während die Wahrheit des Seins selbst sich dem Wissen als Berechnung entzieht.
Dass die christliche Glaubenshaltung sich in dem Wörtchen 'Amen' ausdrückt, in dem sich die Bedeutungen: Trauen, Anvertrauen, Treue, Festigkeit, fester Grund, Stehen, Wahrheit gegenseitig durchdringen, das will sagen, dass das, worauf der Mensch im letzten stehen und was ihm Sinn sein kann, allein die Wahrheit selbst sein darf. Nur die Wahrheit ist der dem Menschen gemäße Grund seines Stehens. So schließt der Akt des christlichen Glaubens wesentlich die Überzeugung ein, dass der Sinn gebende Grund, der 'Logos', worauf wir uns stellen, gerade als Sinn auch die Wahrheit ist.

Anmerkung: J. Ratzinger: Das griechische Wort Logos stellt in seiner Sinnweite eine gewisse Entsprechung zu der hebräischen Wurzel 'mn ('Amen') dar: Wort, Sinn, Vernunft, Wahrheit sind in seiner Bedeutungsbreite eingeschlossen.

Sinn, der nicht die Wahrheit wäre, würde Un-Sinn sein. Die Untrennbarkeit von Sinn, Grund, Wahrheit, die sich ebenso im hebräischen Wort 'Amen' wie im griechischen 'Logos' ausdrückt, sagt zugleich ein ganzes Weltbild an. In der Untrennbarkeit von Sinn, Grund und Wahrheit, wie solche Wörter sie - für uns unnachahmlich -umschließen, kommt das ganze Koordinatennetz zum Vorschein, in dem christlicher Glaube die Welt betrachtet und sich ihr stellt. Das bedeutet dann aber auch, dass Glaube von seinem ursprünglichen Wesen her keine blinde Häufung unverstehbarer Paradoxien ist. Es bedeutet weiterhin, dass es Unfug ist, das Mysterium, wie es freilich nicht allzu selten geschieht, als Ausflucht für das Versagen des Verstandes vorzuschützen. Wenn die Theologie zu allerlei Ungereimtheiten kommt und sie mit dem Verweis auf das Mysterium nicht nur entschuldigen, sondern womöglich kanonisieren will, liegt ein Missbrauch der wahren Idee des 'Mysteriums' vor, dessen Sinn nicht die Zerstörung des Verstandes ist, sondern das vielmehr Glauben als Verstehen ermöglichen will. Anders ausgedrückt: Gewiss ist Glaube nicht Wissen im Sinn des Machbarkeitswissens und seiner Form der Berechenbarkeit. Das kann er nie werden, und er kann sich letztlich nur lächerlich machen, wenn er versucht, sich dennoch in dessen Formen zu etablieren. Aber umgekehrt gilt, dass das berechenbare Machbarkeitswissen von Wesen her auf das Erscheinende und Funktionierende beschränkt ist und nicht den Weg darstellt, die Wahrheit selbst zu finden, auf die es von seiner Methode her Verzicht getan hat. Die Form, wie der Mensch mit der Wahrheit des Seins zu tun erhält, ist nicht Wissen, sondern Verstehen: Verstehen des Sinnes, dem er sich anvertraut hat. Und freilich werden wir hinzufügen müssen, dass nur im Stehen sich das Verstehen eröffnet, nicht außerhalb davon. Eines geschieht nicht ohne das andere, denn Verstehen bedeutet, den Sinn, den man als Grund empfangen hat, als Sinn zu ergreifen und zu begreifen. Ich denke, dies sei die genaue Bedeutung dessen, was wir mit Verstehen meinen: dass wir den Grund, worauf wir uns gestellt haben, als Sinn und als Wahrheit ergreifen lernen; dass wir erkennen lernen, dass der Grund Sinn darstellt.
Wenn es aber so ist, dann bedeutet Verstehen nicht nur keinen Widerspruch zum Glauben, sondern stellt dessen eigenste Sache dar. Denn das Wissen der Funktionalisierbarkeit der Welt, wie es uns das heutige technisch-naturwissenschaftliche Denken großartig vermittelt, bringt noch kein Verstehen der Welt und des Seins. Verstehen wächst nur aus Glauben. Deshalb ist Theologie als verstehende, logoshafte (-  rationale, vernünftig - verstehende) Rede von Gott eine Uraufgabe christlichen Glaubens. In diesem Sachverhalt gründet auch das durch nichts aufzuhebende Recht des Griechischen im Christlichen. Ich bin der Überzeugung, dass es im tiefsten kein bloßer Zufall war, dass die christliche Botschaft bei ihrer Gestaltwerdung zuerst in die griechische Welt eintrat und sich hier mit der Frage nach dem Verstehen, nach der Wahrheit verschmolzen hat.
 
Anmerkung J. Ratzinger: Man kann in diesem Zusammenhang auf die bedeutsame Perikope Apg 16,6-10 verweisen (der Heilige Geist hindert Paulus, in Asien zu verkündigen, der Geist Jesu lässt ihn nicht nach Bithynien reisen; dazu die Vision mit dem Ruf Makedoniens "Komm herüber und hilf uns"). Dieser geheimnisvolle Text dürfte doch wohl so etwas wie einen ersten 'geschichtstheologischen' Versuch darstellen, der den Übergang der Botschaft nach Europa, 'zu den Griechen', als göttlich verfügtes Müssen herausstellen will; vgl. dazu auch E. Peterson, Die Kirche, in: Theologische Traktate, München 1951,409-429.

Glauben und Verstehen gehören nicht weniger zusammen als Glauben und Stehen, einfach weil Stehen und Verstehen untrennbar sind. Insofern enthüllt die griechische Übersetzung des jesajanischen Satzes von Glauben und Bleiben eine Dimension, die dem Biblischen selbst unabdingbar ist, wenn es nicht ins Schwärmerische, Sektiererische abgedrängt werden soll. Allerdings ist es dem Verstehen eigen, dass es unser Begreifen immer wieder überschreitet zu der Erkenntnis unseres Umgriffenseins. Wenn aber Verstehen Begreifen unseres Umgriffenseins ist, dann heißt dies, dass wir es nicht noch einmal umgreifen können; es gewährt uns Sinn eben dadurch, dass es uns umgreift. In diesem Sinn sprechen wir mit Recht vom Geheimnis als dem uns vorausgehenden und uns immerfort überschreitenden, von uns nie einzuholenden oder zu überholenden Grund. Aber gerade im Umgriffensein von dem nicht noch einmal Begriffenen vollzieht sich die Verantwortung des Verstehens, ohne die der Glaube würdelos würde und sich selbst zerstören müsste.

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Literatur und Quellenhinweis:

Joseph Ratzinger
Einführung in das Christentum

Vorlesungen über das Apostolische Glaubensbekenntnis
München, 1968

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20070903

Glaube als Stehen und Verstehen


Indem ich das Begriffspaar Stehen - Verstehen demjenigen von Wissen - Machen gegenüberstelle, spiele ich auf ein letztlich unübersetzbares biblisches Grundwort über den Glauben an, dessen tiefsinniges Wortspiel Luther einzufangen versuchte in der Formel: "Glaubt ihr nicht, so bleibt ihr nicht"; wörtlicher könnte man übersetzen: "Wenn ihr nicht glaubt (wenn ihr euch nicht an Jahwe festhaltet), dann werdet ihr keinen Halt haben" (Jes 7,9). Die eine Wortwurzel 'mn (amen) umfasst eine Vielfalt von Bedeutungen, deren Ineinander greifen und Differenziertheit die subtile Großartigkeit dieses Satzes ausmacht. Sie schließt die Bedeutungen Wahrheit, Festigkeit, fester Grund, Boden ein, des weiteren die Bedeutungen Treue, trauen, sich anvertrauen, sich auf etwas stellen, an etwas glauben; das Glauben an Gott erscheint so als ein Sicheinhalten bei Gott, durch das der Mensch einen festen Halt für sein Leben gewinnt. Glaube ist damit beschrieben als ein Standfassen, als ein vertrauendes Sichstellen auf den Boden des Wortes Gottes. Die griechische Übersetzung des Alten Testaments (die so genannte Septuaginta) hat den vorhin genannten Satz nicht nur sprachlich, sondern auch gedanklich in den griechischen Bereich hinein übersetzt, indem sie formuliert: "Wenn ihr nicht glaubt, dann versteht ihr auch nicht". Man hat vielfach gesagt, in dieser Übersetzung sei bereits der typische Hellenisierungsprozess, der Abfall vom ursprünglich Biblischen am Werk. Glaube würde intellektualisiert; anstatt das Stehen auf dem festen Grund des zuverlässigen Wortes Gottes auszudrücken, werde er nun mit Verstehen und Verstand in Verbindung gebracht und damit auf eine ganz andere, ihm durchaus unangemessene Ebene verlegt. Daran mag etwas Wahres sein. Dennoch meine ich, dass aufs Ganze gesehen unter veränderten Vorzeichen das Entscheidende gewahrt ist. Stehen, wie es im Hebräischen als Inhalt des Glaubens angegeben wird, hat durchaus auch mit Verstehen etwas zu tun. Darüber werden wir gleich anschließend noch weiter reflektieren müssen. Einstweilen können wir einfach den Faden des vorhin Bedachten wieder aufgreifen und sagen, dass Glaube eine völlig andere Ebene meint als jene des Machens und der Machbarkeit. Er ist wesentlich das Sich anvertrauen an das Nicht-Selbstgemachte und niemals Machbare, das gerade so all unser Machen trägt und ermöglicht. Das heißt aber dann weiterhin, dass er auf der Ebene des Machbarkeitswissens, auf der Ebene des 'verum quia factum seu faciendum' weder vorkommt noch überhaupt vorkommen und darin gefunden werden kann und dass jeder Versuch, ihn dort 'auf den Tisch zu legen', ihn im Sinn des Machbarkeitswissens beweisen zu wollen, notwendig scheitern muss Er ist im Gefüge dieser Art von Wissen nicht anzutreffen, und wer ihn dennoch dort auf den Tisch legt, der hat etwas Falsches auf den Tisch gelegt. Das bohrende Vielleicht, mit dem der Glaube den Menschen allerorten und jederzeit in Frage stellt, verweist nicht auf eine Unsicherheit innerhalb des Machbarkeitswissens, sondern es ist die Infragestellung der Absolutheit dieses Bereichs, seine Relativierung als eine Ebene des menschlichen Seins und des Seins überhaupt, die nur den Charakter von etwas Vorletztem haben kann. Anders ausgedrückt: Wir sind mit unseren Überlegungen nun an einer Stelle angelangt, an der sichtbar wird, dass es zwei Grundformen menschlichen Verhaltens zur Wirklichkeit gibt, von denen die eine nicht auf die andere zurückgeführt werden kann, weil sich beide je auf einer gänzlich anderen Ebene abspielen.
Man darf hier vielleicht an eine Gegenüberstellung Martin Heideggers erinnern, der von der Dualität von rechnendem Denken und besinnlichem Denken spricht. Beide Denkweisen sind legitim und notwendig, aber eben deshalb kann keine von beiden in die andere hinein aufgelöst werden. Beides also muss es geben: das rechnende Denken, das der Machbarkeit zugeordnet ist, und das besinnliche Denken, das dem Sinn nachdenkt. Man wird dem Freiburger Philosophen wohl auch nicht ganz unrecht geben können, wenn er die Befürchtung ausdrückt, dass in einer Zeit, in der das rechnende Denken die staunenswertesten Triumphe feiert, der Mensch dennoch, ja vielleicht mehr als zuvor, von der Gedankenlosigkeit bedroht ist, von der Flucht vor dem Denken. Indem er allein dem Machbaren nachdenkt, steht er in Gefahr zu vergessen, sich selbst, den Sinn seines Seins zu bedenken. Freilich gibt es diese Versuchung zu allen Zeiten. So glaubte im 13. Jahrhundert der große Franziskanertheologe Bonaventura seinen Kollegen von der philosophischen Fakultät in Paris vorwerfen zu müssen, sie hätten die Welt zwar zu messen gelernt, aber verlernt, sich selbst zu messen. Sagen wir das gleiche nochmals anders: Glauben in dem Sinn, wie ihn das Credo will, ist nicht eine unfertige Form des Wissens, ein Meinen, das man dann in Machbarkeitswissen umsetzen könnte oder sollte. Er ist vielmehr eine von Wesen andere Form geistigen Verhaltens, die als etwas Selbständiges und Eigenes neben diesem steht, nicht rückführbar darauf und unableitbar davon. Denn der Glaube ist nicht dem Bereich der Machbarkeit und des Gemachten zugeordnet, obwohl er mit beiden zu tun hat, sondern dem Bereich der Grundentscheidungen, deren Beantwortung dem Menschen unausweichlich ist und die von Wesen her nur in einer Form geschehen kann. Diese Form aber nennen wir Glaube. Es scheint mir unerlässlich, dies in voller Deutlichkeit zu sehen: Jeder Mensch muss in irgendeiner Form zum Bereich der Grundentscheidungen Stellung beziehen, und kein Mensch kann das anders als in der Weise eines Glaubens tun. Es gibt einen Bezirk, der keine andere Antwort als die eines Glaubens zulässt, und gerade ihn kann kein Mensch ganz umgehen. Jeder Mensch muss auf irgendeine Art 'glauben'.
Der bisher imponierendste Versuch, die Verhaltensweise 'Glaube' dennoch der Verhaltensweise des Machbarkeitswissens einzuordnen, liegt im Marxismus vor. Denn hier stellt das Faciendum, die selbst zu erschaffende Zukunft, zugleich den Sinn des Menschen dar, so dass die Sinngebung, die an sich im Glauben vollzogen bzw. angenommen wird, auf die Ebene des zu Machenden transponiert erscheint. Damit ist ohne Zweifel die äußerste Konsequenz neuzeitlichen Denkens erreicht; es scheint geglückt, den Sinn des Menschen gänzlich ins Machbare einzubeziehen, ja, beides einander gleichzusetzen. Sieht man indes näher zu, so zeigt sich, dass auch dem Marxismus die Quadratur des Kreises nicht gelungen ist. Denn auch er kann das Machbare als Sinn nicht wissbar machen, sondern nur verheißen und damit dem Glauben zur Entscheidung anbieten. Was freilich diesen marxistischen Glauben heute so attraktiv und so unmittelbar zugänglich erscheinen lässt, ist der Eindruck der Harmonie mit dem Machbarkeitswissen, den er hervorruft. Kehren wir nach dieser kleinen Abschweifung zurück, um noch einmal und zusammenfassend zu fragen: Was ist das eigentlich, das Glauben? Darauf können wir jetzt antworten: Es ist die nicht auf Wissen reduzierbare, dem Wissen inkommensurable Form des Standfassens des Menschen im Ganzen der Wirklichkeit, die Sinngebung, ohne die das Ganze des Menschen ortlos bliebe, die dem Reden und Handeln des Menschen vorausliegt und ohne die er letztlich auch nicht rechnen und handeln könnte, weil er es nur kann im Ort eines Sinnes, der ihn trägt. Denn in der Tat: der Mensch lebt nicht vom Brot der Machbarkeit allein, er lebt als Mensch und gerade in dem Eigentlichen seines Menschseins vom Wort, von der Liebe, vom Sinn. Der Sinn ist das Brot, wovon der Mensch im Eigentlichen seines Menschseins besteht. Ohne das Wort, ohne den Sinn, ohne die Liebe kommt er in die Situation des Nicht-mehr-leben-Könnens, selbst wenn irdischer Komfort im Überfluss vorhanden ist. Wer wüsste nicht, wie sehr diese Situation des 'Ich kann nicht mehr' inmitten des äußeren Überflusses auftauchen kann? Sinn aber ist nicht abkünftig von Wissen. Ihn auf diese Art, das heißt aus dem Beweiswissen der Machbarkeit, herstellen zu wollen entspräche dem absurden Versuch Münchhausens, sich selbst an den Haaren aus dem Sumpf ziehen zu wollen. Ich glaube, dass in der Absurdität jener Geschichte die Grundsituation des Menschen sehr genau zum Vorschein kommt. Aus dem Sumpf der Ungewissheit, des Nicht-leben-Könnens zieht sich niemand selbst empor, ziehen wir uns auch nicht, wie Descartes noch meinen konnte, durch ein 'Cogito ergo sum', durch eine Kette von Vernunftschlüssen, heraus. Sinn, der selbst gemacht ist, ist im letzten kein Sinn. Sinn, das heißt der Boden, worauf unsere Existenz als ganze stehen und leben kann, kann nicht gemacht, sondern nur empfangen werden. Damit sind wir, von einer ganz allgemeinen Analyse der Grundhaltung Glaube ausgehend, unmittelbar bei der christlichen Weise des Glaubens angelangt. Christlich glauben bedeutet ja, sich anvertrauen dem Sinn, der mich und die Welt trägt; ihn als den festen Grund nehmen, auf dem ich furchtlos stehen kann. Etwas mehr in der Sprache der Tradition redend könnten wir sagen: Christlich glauben bedeutet unsere Existenz als Antwort verstehen auf das Wort, den Logos, der alle Dinge trägt und hält. Er bedeutet das Jasagen dazu, dass der Sinn, den wir nicht machen, sondern nur empfangen können, uns schon geschenkt ist, so dass wir ihn nur zu nehmen und uns ihm anzuvertrauen brauchen. Dementsprechend ist christlicher Glaube die Option dafür, dass das Empfangen dem Machen vorangeht - womit das Machen nicht abgewertet oder gar für überflüssig erklärt wird. Nur weil wir empfangen haben, können wir auch 'machen'. Und weiterhin: Christlicher Glaube - wir sagten es schon - bedeutet die Option dafür, dass das Nichtzusehende wirklicher ist als das zu Sehende. Er ist das Bekenntnis zum Primat des Unsichtbaren als des eigentlich Wirklichen, das uns trägt und daher ermächtigt, mit gelöster Gelassenheit uns dem Sichtbaren zu stellen - in der Verantwortung vor dem Unsichtbaren als dem wahren Grund aller Dinge. Insofern ist freilich - man kann es nicht leugnen - christlicher Glaube in doppelter Hinsicht ein Affront gegen die Einstellung, zu der uns die heutige Weltsituation zu drängen scheint. Als Positivismus und als Phänomenologismus lädt sie uns ein, uns auf das 'Sichtbare', das 'Erscheinende' im weitesten Sinn des Wortes zu beschränken, die methodische Grundeinstellung, der die Naturwissenschaft ihre Erfolge verdankt, aufs Ganze unseres Wirklichkeitsbezugs auszudehnen. Als Techne hinwiederum fordert sie uns auf, uns auf das Machbare zu verlassen und davon den Boden zu erhoffen, der uns trägt. Der Primat des Unsichtbaren vor dem Sichtbaren und der des Empfangens vor dem Machen läuft stracks dieser Grundsituation zuwider. Darauf wohl beruht es, dass uns der Sprung des Sichanvertrauens an das Nichtzusehende heute so schwer wird. Und doch ist die Freiheit des Machens wie diejenige, das Sichtbare durch methodisches Forschen in Dienst zu nehmen, letztlich erst ermöglicht durch die Vorläufigkeit, in die christlicher Glaube beides verweist, und durch die Überlegenheit, die er so eröffnet hat.


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Literatur und Quellenhinweis:

Joseph Ratzinger
Einführung in das Christentum

Vorlesungen über das Apostolische Glaubensbekenntnis
München, 1968

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Phainomena, Wirklichkeit, Verstand u Glaube


Die Grenze des modernen Wirklichkeitsverständnisses
 und der Ort des Glaubens

Wenn wir vermöge der uns heute gegebenen historischen Erkenntnis den Weg des menschlichen Geistes überblicken, soweit er sich unserem Auge darbietet, werden wir feststellen, dass es in den verschiedenen Perioden der Entfaltung dieses Geistes verschiedene Formen des Stehens zur Wirklichkeit gibt, etwa die magische Grundorientierung oder die metaphysische oder schließlich heute die wissenschaftliche (wobei hier 'wissenschaftlich' vom Modell der Naturwissenschaften her gedacht ist). Jede dieser menschlichen Grundorientierungen hat auf ihre Weise mit dem Glauben zu tun, und jede steht ihm auch auf ihre Weise im Weg. Keine deckt sich mit ihm, aber auch keine ist einfach neutral zu ihm; jede kann ihm dienen, und jede kann ihn hindern. Für unsere heutige wissenschaftsbestimmte Grundeinstellung, die unser aller Daseinsgefühl ungefragt prägt und uns den Ort im Wirklichen zuweist, ist die Beschränkung auf die 'Phainomena', auf das Erscheinende und in den Griff zu Nehmende, kennzeichnend. Wir haben es aufgegeben, das verborgene An-sich der Dinge zu suchen, in das Wesen des Seins selbst hinabzuloten; solches zu tun erscheint uns als fruchtloser Versuch, die Tiefe des Seins gilt uns als letztlich unerreichbar. Wir haben uns auf unsere Perspektive eingestellt, auf das Sehbare im weitesten Sinn, auf das, was unserem messenden Zugriff fassbar ist. Die Methodik der Naturwissenschaft beruht auf dieser Beschränkung auf das Erscheinende. Es genügt uns. Mit ihm können wir hantieren und so uns selbst jene Welt erschaffen, in der wir als Menschen zu leben vermögen. Damit hat sich im neuzeitlichen Denken und Existieren allmählich ein neuer Begriff von Wahrheit und Wirklichkeit herausgebildet, der meistens unbewusst als die Voraussetzung unseres Denkens und Redens waltet, der aber nur bewältigt werden kann, wenn er auch seinerseits der Prüfung des Bewusstseins ausgesetzt wird. An dieser Stelle wird die Funktion des nicht-naturwissenschaftlichen Denkens sichtbar, das Unbedachte zu bedenken und die menschliche Problematik solcher Orientierung dem Bewusstsein vor den Blick zu bringen.

a) Das erste Stadium: Die Geburt des Historismus. Wenn wir zu erkennen versuchen, wie es zu der eben geschilderten Einstellung kam, werden wir, wenn ich recht sehe, wohl zwei Stadien des geistigen Umbruchs feststellen können. Das erste, von Descartes vorbereitet, erhält seine Gestaltung bei Kant und vorher schon, in einem etwas anderen Denkansatz, bei dem italienischen Philosophen Giambattista Vico (1688-1744), der wohl als erster eine völlig neue Idee von Wahrheit und Erkenntnis formuliert und in einem kühnen Vorgriff die typische Formel des neuzeitlichen Geistes hinsichtlich der Wahrheits- und Wirklichkeitsfrage geprägt hat. Der scholastischen Gleichung 'Verum est ens - das Sein ist die Wahrheit' - stellt er seine Formel entgegen: 'Verum quia factum'. Das will sagen: Als wahr erkennbar ist für uns nur das, was wir selbst gemacht haben. Mir will scheinen, dass diese Formel das eigentliche Ende der alten Metaphysik und den Anfang des spezifisch neuzeitlichen Geistes darstellt. Die Revolution des modernen Denkens gegenüber allem Vorangegangenen ist hier mit einer geradezu unnachahmlichen Präzision gegenwärtig. Für Antike und Mittelalter ist das Sein selbst wahr, das heißt erkennbar, weil Gott, der Intellekt schlechthin, es gemacht hat; er hat es aber gemacht, indem er es gedacht hat. Denken und Machen sind dem schöpferischen Urgeist, dem Creator Spiritus, eins. Sein Denken ist ein Erschaffen. Die Dinge sind, weil sie gedacht sind. Für antike und mittelalterliche Sicht ist daher alles Sein Gedachtsein, Gedanke des absoluten Geistes. Das bedeutet umgekehrt: Da alles Sein Gedanke ist, ist alles Sein Sinn, 'Logos', Wahrheit.

Im vollen Umfang gilt diese Aussage freilich erst für das christliche Denken, das mit der Idee der creatio ex nihilo auch die Materie auf Gott zurückführt, die für die Antike das A-logische, der dem Göttlichen fremde Weltstoff, blieb, der damit auch die Grenze der Verstehbarkeit des Wirklichen markiert.

Menschliches Denken ist von da aus Nach-Denken des Seins selbst, Nachdenken des Gedankens, der das Sein selber ist. Der Mensch aber kann dem Logos, dem Sinn des Seins, nachdenken, weil sein eigener Logos, seine eigene Vernunft, Logos des einen Logos, Gedanke des Urgedankens ist, des Schöpfergeistes, der das Sein durchwaltet.
Demgegenüber erscheint im Blickpunkt der Antike und des Mittelalters das Werk des Menschen als das Zufällige und Vorübergehende. Das Sein ist Gedanke, daher denkbar, Gegenstand des Denkens und der Wissenschaft, die nach Weisheit strebt. Das Werk des Menschen hingegen ist das aus Logos und Unlogik Vermischte, das überdies mit der Zeit in die Vergangenheit absinkt. Es lässt keine volle Verstehbarkeit zu, denn es fehlt ihm an Gegenwart, die Voraussetzung des Schauern ist, und es fehlt ihm an Logos, an durchgehender Sinnhaftigkeit. Aus diesem Grunde war der antike und mittelalterliche Wissenschaftsbetrieb der Ansicht, dass das Wissen von den menschlichen Dingen nur 'Techne', handwerkliches Können, aber nie wirkliches Erkennen und daher nie wirkliche Wissenschaft sein könne. Deshalb blieben in der mittelalterlichen Universität die artes, die Künste, nur die Vorstufe der eigentlichen Wissenschaft, die dem Sein selbst nachdenkt. Man kann diesen Standpunkt noch bei Descartes am Anfang der Neuzeit deutlich festgehalten finden, wenn er ausdrücklich den Wissenschaftscharakter der Historie bestreitet. Der Historiker, der die alte römische Geschichte zu kennen vorgebe, wisse schließlich weniger von ihr, als ein Koch in Rom wusste, und Latein zu verstehen bedeute, nicht mehr zu können, als was auch Ciceros Dienstmädchen konnte. Rund hundert Jahre später wird Vico den Wahrheitskanon des Mittelalters, der sich hier noch einmal ausdrückte, regelrecht auf den Kopf stellen und damit die grundlegende Wende des neuzeitlichen Geistes zu Worte bringen. Nun erst beginnt jene Einstellung, die das 'wissenschaftliche' Zeitalter herauf führt, in dessen Entfaltung wir noch immer stehen.

Zum historischen Material siehe den Überblick bei K. Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen, Stuttgart 3/1953, 109-128, sowie das demnächst erscheinende Werk von N. Schiffers, Anfragen der Physik an die Theologie, Düsseldorf 1968.

Versuchen wir das, weil es für unsere Frage grundlegend ist, noch etwas weiter zu bedenken. Für Descartes erscheint noch einzig die von den Unsicherheiten des Tatsächlichen gereinigte, rein formale Vernunftgewissheit als wirkliche Gewissheit. Die Wende zur Neuzeit kündigt sich immerhin an, wenn er diese Vernunftgewissheit wesentlich vom Modell der mathematischen Gewissheit her versteht, Mathematik zur Grundform alles vernünftigen Denkens erhebt. (N. Schiffers, a. a. O.). Während aber hier die Tatsachen noch ausgeklammert werden müssen, wenn man Sicherheit will, stellt Vico die genau umgekehrte These auf. Formal im Anschluss an Aristoteles erklärt er, dass wirkliches Wissen ein Wissen der Ursachen sei. Ich kenne eine Sache, wenn ich ihre Ursache kenne; das Begründete verstehe ich, wenn ich den Grund weiß. Aber aus diesem alten Gedanken wird etwas durchaus Neues gefolgert und gesagt: Wenn zu wirklichem Wissen das Wissen der Ursachen gehört, dann können wir nur das wahrhaft wissen, was wir selbst gemacht haben, denn nur uns selbst kennen wir. Das bedeutet dann, dass an die Stelle der alten Gleichsetzung von Wahrheit und Sein die neue von Wahrheit und Tatsächlichkeit tritt, erkennbar ist nur das 'Faktum', das, was wir selbst gemacht haben. Nicht dem Sein nachzudenken ist die Aufgabe und Möglichkeit des menschlichen Geistes, sondern dem Faktum, dem Gemachten, der Eigenwelt des Menschen, denn nur sie vermögen wir wahrhaft zu verstehen. Der Mensch hat den Kosmos nicht hervorgebracht, und er bleibt ihm in seiner letzten Tiefe undurchsichtig. Vollkommenes, beweisbares Wissen ist ihm nur erreichbar innerhalb der mathematischen Fiktionen und bezüglich der Geschichte, die der Bereich des vom Menschen selbst Gewirkten und ihm deshalb Wißbaren ist. Inmitten des Ozeans des Zweifels, der nach dem Zusammenbruch der alten Metaphysik am Beginn der Neuzeit die Menschheit bedroht, wird hier im Faktum das feste Land wieder entdeckt, auf dem der Mensch versuchen kann, sich eine neue Existenz zu erbauen. Die Herrschaft des Faktums beginnt, das heißt die radikale Zuwendung des Menschen zu seinem eigenen Werk als dem allein ihm Gewissen. Damit ist jene Umwertung aller Werte verbunden, die aus der folgenden Geschichte wirklich eine 'neue' Zeit gegenüber der alten werden lässt. Was vordem verachtet und unwissenschaftlich gewesen war, die Historie, bleibt nun als einzig wahre Wissenschaft neben der Mathematik übrig. Was vorher allein des freien Geistes würdig schien, dem Sinn des Seins nachzudenken, erscheint jetzt als müßiges und auswegloses Bemühen, dem kein echtes Wissenkönnen entspricht So werden nun Mathematik und Historie zu den beherrschenden Disziplinen, ja, die Historie verschlingt gleichsam den ganzen Kosmos der Wissenschaften in sich hinein und verwandelt sie alle grundlegend. Philosophie wird durch Hegel, auf andere Weise durch Comte zu einer Frage der Geschichte, in der das Sein selbst als geschichtlicher Prozess zu begreifen ist; Theologie wird bei F. Chr. Baur zur Historie, ihr Weg die streng historische Forschung, die dem damals Geschehenen nachfragt und dadurch der Sache auf den Grund zu kommen hofft; Nationalökonomie wird bei Marx geschichtlich umgedacht, ja, auch die Naturwissenschaften sind von dieser allgemeinen Tendenz zur Geschichte betroffen: Bei Darwin wird das System des Lebendigen als eine Geschichte des Lebens begriffen; an die Stelle der Konstanz dessen, was bleibt, wie es geschaffen ist, tritt eine Abstammungsreihe, in der alle Dinge voneinander kommen und aufeinander rückführbar sind.

K. Löwith, a.a.O., 38. Über den Umbruch in der Mitte des 19. Jahrhunderts siehe auch die lehrreiche Untersuchung von J. Dörmann, War J. J. Bachofen Evolutionist?, in: Anthropos 60 (1965), 1-48.

So erscheint aber endlich die Welt nicht mehr als das feste Gehäuse des Seins, sondern als ein Prozess, dessen beständige Ausbreitung die Bewegung des Seins selber ist. Das bedeutet: Die Welt ist nur noch als vom Menschen gemachte wißbar. Über sich vermag der Mensch im letzten nicht mehr hinaus zuschauen, es sei denn wieder auf der Ebene des Faktums, wo er sich selber als Zufallsprodukt uralter Entwicklungen erkennen muss. Auf diese Weise entsteht nun eine höchst eigentümliche Situation. In dem Augenblick, in dem eine radikale Anthropozentrik einsetzt, der Mensch nur noch sein eigenes Werk erkennen kann, muss er doch zugleich lernen, sich selbst als ein bloß zufällig Gewordenes, auch nur als 'Faktum', hinzunehmen. Auch hier wird ihm gleichsam der Himmel eingerissen, aus dem er zu kommen schien, und nur die Erde der Fakten bleibt in seinen Händen zurück - die Erde, in der er jetzt mit dem Spaten die mühsame Geschichte seines Werdens zu entziffern sucht.

b) Das zweite Stadium: Die Wende zum technischen Denken, 'Verum quia factum', dieses Programm, das den Menschen auf die Geschichte als Ort der Wahrheit weist, konnte für sich allein freilich nicht genügen. Zur vollen Wirkung kam es erst, als es sich mit einem zweiten Motiv verband, das, wiederum gut 100 Jahre später, Karl Marx formuliert hat in seinem klassischen Satz: "Bisher haben die Philosophen die Welt betrachtet, nun müssen sie daran gehen, sie zu verändern". Die Aufgabe der Philosophie wird damit nochmal grundlegend neu bestimmt. In die Sprache der philosophischen Tradition übertragen hieße diese Maxime, dass an die Stelle des 'Verum quia factum' - erkennbar, wahrheitsträchtig ist das, was der Mensch gemacht hat und was er nun betrachten kann - das neue Programm tritt 'Verum quia faciendum' - die Wahrheit, um die es fortan geht, ist die Machbarkeit. Nochmal anders gewendet: Die Wahrheit, mit der der Mensch zu tun hat, ist weder die Wahrheit des Seins noch auch letztlich die seiner gewesenen Taten, sondern es ist die Wahrheit der Weltveränderung, der Weltgestaltung — eine auf Zukunft und Aktion bezogene Wahrheit.
'Verum quia faciendum' — das will sagen, dass die Herrschaft des Faktum seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in zunehmendem Maße abgelöst wird durch die Herrschaft des Faciendum, des zu Machenden und Machbaren, und dass damit die Herrschaft der Historie verdrängt wird durch diejenige der Techne. Denn je mehr der Mensch den neuen Weg beschreitet, sich auf das Faktum zu konzentrieren und darin Gewissheit zu suchen, desto mehr muss er auch erkennen, dass sich selbst das Faktum, sein eigenes Werk, ihm weitgehend entzieht. Die Belegbarkeit, die der Historiker anstrebt und die zunächst im 19. Jahrhundert als der große Triumph der Historie gegenüber der Spekulation erscheint, behält immer etwas Fragwürdiges an sich, ein Moment der Rekonstruktion, der Deutung und der Zweideutigkeit, so dass schon zu Beginn dieses Jahrhunderts die Historie in eine Krise geriet und der Historismus mit seinem stolzen Wissensanspruch fragwürdig wurde. Immer deutlicher zeigte sich, dass es das reine Faktum und seine unerschütterliche Sicherheit gar nicht gibt, dass auch im Faktum jedes mal noch das Deuten und seine Zweideutigkeit enthalten sind. Immer weniger konnte man sich verbergen, dass man abermals nicht jene Gewissheit in Händen hielt, die man sich zunächst, in der Abwendung von der Spekulation, von der Tatsachenforschung versprochen hatte. So musste sich mehr und mehr die Überzeugung durchsetzen, dass wirklich erkennbar dem Menschen zu guter Letzt nur das sei, was wiederholbar ist, was er sich im Experiment jederzeit neu vor Augen stellen kann. Alles, was er nur in sekundären Zeugnissen zu sehen vermag, bleibt Vergangenheit und ist trotz aller Belege nicht vollends erkennbar. Damit erscheint die naturwissenschaftliche Methode, die sich aus der Verbindung von Mathematik (Descartes!) und Zuwendung zur Faktizität in der Form des wiederholbaren Experiments ergibt, als der einzig wirkliche Träger zuverlässiger Gewissheit. Aus der Verbindung von mathematischem Denken und Faktendenken resultiert der von der Naturwissenschaft bestimmte geistige Standort des modernen Menschen, der damit Zuwendung zur Wirklichkeit, insofern sie Machbarkeit ist, bedeutet.

Vgl. H. Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, Stuttgart 1958, besonders 15-78.

Das Faktum hat das Faciendum, das Gemachte hat das Machbare und Wiederholbare, Nachprüfbare aus sich entlassen und ist nun um seinetwillen da. Es kommt zum Primat des Machbaren vor dem Gemachten, denn in der Tat: Was soll der Mensch schon mit dem bloß Gewesenen? Er kann seinen Sinn nicht darin finden, sich zum Museumswärter seiner eigenen Vergangenheit zu machen, wenn er seine Gegenwart bewältigen will.
Damit hört, wie vorher die Historie, nun die Techne auf, eine untergeordnete Vorstufe der geistigen Entfaltung des Menschen zu sein, auch wenn sie in einem ausgesprochen geisteswissenschaftlich orientierten Bewusstsein noch immer einen gewissen Ruch von Barbarei behält. Von der geistigen Gesamtsituation her ist die Lage grundlegend geändert: Techne ist nicht länger ins Unterhaus der Wissenschaften verbannt oder richtiger: das Unterhaus ist auch hier das eigentlich Bestimmende geworden, vor dem das 'Oberhaus' nur noch als ein Haus von adligen Pensionären erscheint. Techne wird zum eigentlichen Können und Sollen des Menschen. Was bis dahin zuunterst stand, steht jetzt zuoberst; zugleich verschiebt sich noch einmal die Perspektive: War der Mensch zuerst, in Antike und Mittelalter, dem Ewigen zugewandt gewesen, dann in der kurzen Herrschaft des Historismus dem Vergangenen, so verweist ihn nun das Faciendum, die Machbarkeit, auf die Zukunft dessen, was er selbst erschaffen kann. Wenn er vordem, etwa durch die Ergebnisse der Abstammungslehre, resigniert festgestellt haben mochte, dass er von seiner Vergangenheit her nur Erde, bloßer Zufall der Entwicklung ist, wenn er von solcher Wissenschaft desillusioniert war und sich degradiert erschien, so braucht ihn das jetzt nicht mehr zu stören, denn nun kann er, von wo auch immer er kommt, entschlossen seiner Zukunft entgegensehen, um sich selbst zu dem zu erschaffen, was er will. Es braucht ihm nicht mehr als Unmöglichkeit zu erscheinen, sich selbst zum Gott zu erschaffen, der nun als Faciendum, als das Machbare, am Ende und nicht mehr als Logos, als Sinn, am Anfang steht. Das wirkt sich übrigens heute bereits ganz konkret in der Form der anthropologischen Fragestellung aus. Wichtiger als die Abstammungslehre, die praktisch schon wie etwas Selbstverständliches hinter uns liegt, erscheint heute bereits die Kybernetik, die Planbarkeit des neu zu erschaffenden Menschen, so dass auch theologisch die Manipulierbarkeit des Menschen durch sein eigenes Planen ein wichtigeres Problem darzustellen beginnt als die Frage der menschlichen Vergangenheit - obwohl beide Fragen nicht voneinander trennbar sind und in ihrer Richtung sich weithin gegenseitig bestimmen: Die Reduktion des Menschen auf ein 'Faktum' ist die Voraussetzung für sein Verständnis als ein Faciendum, das aus Eigenem in eine neue Zukunft geführt werden soll.

c) Die Frage nach dem Ort des Glaubens. Mit diesem zweiten Schritt des neuzeitlichen Geistes, mit der Zuwendung zur Machbarkeit, ist zugleich ein erster Anlauf der Theologie gescheitert, auf die neuen Gegebenheiten zu antworten. Die Theologie hatte ja versucht, der Problematik des Historismus, seiner Reduktion der Wahrheit auf das Faktum, dadurch zu begegnen, dass sie Glauben selbst als Historie konstruierte. Für den ersten Anschein konnte sie mit dieser Wendung recht zufrieden sein. Schließlich ist christlicher Glaube von seinem Inhalt her wesentlich auf Geschichte bezogen, die Aussagen der Bibel tragen nicht metaphysischen, sondern faktischen Charakter. So konnte die Theologie scheinbar nur einverstanden sein, wenn die Stunde der Metaphysik abgelöst wurde durch diejenige der Geschichte. Denn damit schien zugleich so recht erst ihre eigene Stunde zu schlagen, ja, vielleicht durfte sie die neue Entwicklung überhaupt als Ergebnis ihres eigenen Ausgangspunktes buchen. Die zunehmende Entthronung der Historie durch die Techne hat solche Hoffnungen schnell wieder gedämpft. Dafür drängt sich jetzt ein anderer Gedanke auf - man fühlt sich versucht, Glauben nicht mehr auf der Ebene des Faktum, sondern auf der des Faciendum anzusiedeln und ihn mittels einer 'politischen Theologie' als Medium der Weltveränderung auszulegen.
 
Symptomatisch dafür das oben genannte Werk von H. Cox sowie die neuerdings in Mode kommende 'Theologie der Revolution'; vgl. dazu T. Rendtorff-H. E. Tödt, Theologie der Revolution. Analysen und Materialien, Frankfurt 1968. Eine Tendenz in dieser Richtung auch bei J. Moltmann, Theologie der Hoffnung, München 1964, 3/1966 und bei ]. B, Metz, Zur Theologie der Welt, Mainz-München 1968.

Ich glaube, dass damit nur in der gegenwärtigen Situation das wieder getan wird, was einseitig heilsgeschichtliches Denken in der Situation des Historismus unternommen hatte. Man sieht, dass die Welt von heute bestimmt ist durch die Perspektive des Machbaren, und man antwortet, indem man den Glauben selbst auf diese Ebene transponiert. Nun möchte ich beide Versuche keineswegs einfach als unsinnig beiseite schieben. Damit würde man ihnen sicher nicht gerecht. Vielmehr kommt im einen wie im andern Wesentliches ans Licht, das in anderen Konstellationen mehr oder weniger übersehen worden war. Christlicher Glaube hat wirklich mit dem 'Faktum' zu tun, er wohnt in einer spezifischen Weise auf der Ebene der Geschichte, und es ist kein Zufall, dass gerade im Raum christlichen Glaubens Historismus und Historie überhaupt gewachsen sind. Und zweifellos hat Glaube auch etwas mit Weltveränderung, mit Weltgestaltung, mit dem Einspruch gegen die Trägheit der menschlichen Institutionen und derer, die daraus ihren Nutzen ziehen, zu tun. Wiederum ist es schwerlich ein Zufall, dass das Verständnis der Welt als Machbarkeit im Raum der christlich-jüdischen Überlieferung gewachsen und gerade bei Marx aus ihren Inspirationen heraus, wenn auch in Antithese dazu, gedacht und formuliert worden ist. Insofern ist nicht zu bestreiten, dass beide Male etwas von der wirklichen Meinung des christlichen Glaubens zum Vorschein kommt, das früher allzu sehr verdeckt geblieben war. Christlicher Glaube hat auf entscheidende Weise mit den wesentlichen Antriebskräften der Neuzeit zu tun. Es ist in der Tat die Chance unserer geschichtlichen Stunde, dass wir von ihr her die Struktur des Glaubens zwischen Faktum und Faciendum ganz neu begreifen können; es ist die Aufgabe der Theologie, diesen Anruf und diese Möglichkeit wahrzunehmen und die blinden Stellen vergangener Perioden zu finden und zu füllen. Aber so wenig man hier mit schnellen Aburteilungen bei der Hand sein darf, so sehr bleibt die Warnung vor Kurzschlüssen geboten. Wo die beiden genannten Versuche exklusiv werden und den Glauben ganz auf die Ebene des Faktums oder der Machbarkeit verlegen, da wird zuletzt doch verdeckt, was es eigentlich heißt, wenn ein Mensch sagt: Credo - ich glaube. Denn indem er solches ausspricht, entwirft er fürs erste weder ein Programm aktiver Weltveränderung noch schließt er sich damit einfach einer Kette historischer Ereignisse an. Ich möchte, um das Eigentliche versuchsweise ans Licht zu bringen, sagen, der Vorgang des Glaubens gehöre nicht der Relation Wissen - Machen zu, die für die geistige Konstellation des Machbarkeitsdenkens kennzeichnend ist, er lasse sich viel eher ausdrücken in der ganz anderen Relation Stehen - Verstehen. Mir scheint, dass damit zwei Gesamtauffassungen und Möglichkeiten menschlichen Seins sichtbar werden, die nicht beziehungslos zueinander sind, aber die man doch unterscheiden muss.

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Literatur und Quellenhinweis:

Joseph Ratzinger
Einführung in das Christentum

Vorlesungen über das Apostolische Glaubensbekenntnis
München, 1968

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20070902

Dilemma des Glaubens, Aggiornamento


Das Dilemma des Glaubens
in der Welt von heute


Hat man sich freilich einmal das Abenteuer klargemacht, das wesentlich in der Haltung des Glaubens liegt, dann ist eine zweite Überlegung nicht zu umgehen, in der die besondere Schärfe der Schwierigkeit zu glauben zum Vorschein kommt, wie sie uns heute betrifft. Zur Kluft von 'Sichtbar' und 'Unsichtbar' kommt für uns erschwerend diejenige von 'Damals' und 'Heute' dazu. Die Grundparadoxie, die im Glauben an sich schon liegt, ist noch dadurch vertieft, dass Glaube im Gewand des Damaligen auftritt, ja, geradezu das Damalige, die Lebens- und Existenzform von damals, zu sein scheint. Alle Verheutigungen, ob sie sich nun intellektuell-akademisch 'Entmythologisierung' oder kirchlich-pragmatisch 'Aggiornamento' nennen, ändern das nicht, im Gegenteil: diese Bemühungen verstärken den Verdacht, hier werde krampfhaft als heutig ausgegeben, was in Wirklichkeit doch eben das Damalige ist. Diese Verheutigungsversuche lassen erst vollends bewusst werden, wie sehr das, was uns da begegnet, 'von gestern' ist, und der Glaube erscheint so gar nicht mehr eigentlich als der zwar verwegene, aber doch die Großmut des Menschen herausfordernde Sprung aus dem scheinbaren Alles unserer Sichtbarkeitswelt in das scheinbare Nichts des Unsichtbaren und Ungreifbaren; er erscheint uns viel eher als die Zumutung, im Heute sich auf das Gestrige zu verpflichten und es als das immer während Gültige zu beschwören. Aber wer will das schon in einer Zeit, in der an die Stelle des Gedankens der 'Tradition' die Idee des 'Fortschritts' getreten ist?
Wir stoßen hier im Vorbeigehen auf ein Spezifikum unserer heutigen Situation, das für unsere Frage einige Bedeutung hat. Für vergangene geistige Konstellationen umschrieb der Begriff 'Tradition' ein prägendes Programm; sie erschien als das Bergende, worauf der Mensch sich verlassen kann; er durfte sich dann sicher und am rechten Orte glauben, wenn er sich auf Tradition berufen konnte. Heute waltet genau das entgegengesetzte Gefühl: Tradition erscheint als das Abgetane, das bloß Gestrige, der Fortschritt aber als die eigentliche Verheißung des Seins, so dass der Mensch sich nicht am Ort der Tradition, der Vergangenheit, sondern im Raum des Fortschritts und der Zukunft ansiedelt.

Anmerkung von J. Ratzinger: Bezeichnend dafür erscheint mir ein Zeitungsinserat, das ich kürzlich las: "Sie wollen doch nicht Tradition kaufen, sondern rationellen Fortschritt". In diesem Zusammenhang muss auf die eigentümliche Tatsache hingewiesen werden, dass die katholische Theologie bei ihrer Reflexion über den Traditionsbegriff seit etwa einem Jahrhundert immer stärker dahin tendiert, Tradition stillschweigend mit Fortschritt gleichzusetzen, beziehungsweise die Traditionsidee in die Fortschrittsidee umzuinterpretieren, indem sie Tradition nicht mehr als das feststehende Überlieferungsgut des Anfangs, sondern als die vorwärts treibende Kraft des Glaubenssinnes versteht; vgl. J. Ratzinger,Tradition, in: LThK X, 293-299; ders., Kommentar zur Offenbarungskonstitution, in: LThK, Ergänzungsband II, 498 ff und 515-528.

Auch von da her muss ihm ein Glaube, der ihm unter dem Etikett der 'Tradition' begegnet, als das Überwundene erscheinen, das ihm, der die Zukunft als seine eigentliche Verpflichtung und Möglichkeit erkannt hat, nicht den Ort seines Daseins öffnen kann. Das alles aber heißt, dass das primäre Scandalum des Glaubens, die Distanz von Sichtbar und Unsichtbar, von Gott und Nicht-Gott, verdeckt und versperrt ist durch das sekundäre Scandalum von Damals und Heute, durch die Antithese von Tradition und Fortschritt, durch die Verpflichtung auf die Gestrigkeit, die der Glaube einzuschließen scheint.
Dass weder der tiefsinnige Intellektualismus der Entmythologisierung noch der Pragmatismus des Aggiornamento einfach zu überzeugen vermögen, macht freilich sichtbar, dass auch diese Verzerrung des Grundskandals christlichen Glaubens eine sehr tief reichende Sache ist, der man weder mit Theorien noch mit Aktionen ohne weiteres beikommen kann. Ja, in gewissem Sinne wird hier erst die Eigenart des christlichen Skandals greifbar, nämlich das, was man den christlichen Positivismus, die unaufhebbare Positivität des Christlichen nennen könnte. Ich meine damit folgendes: Christlicher Glaube hat es gar nicht bloß, wie man zunächst bei der Rede vom Glauben vermuten möchte, mit dem Ewigen zu tun, das als das ganz andere völlig außerhalb der menschlichen Welt und der Zeit verbliebe; er hat es vielmehr mit dem Gott in der Geschichte zu tun, mit Gott als Menschen. Indem er so die Kluft von ewig und zeitlich, von sichtbar und unsichtbar zu überbrücken scheint, indem er uns Gott als einem Menschen begegnen lässt, dem Ewigen als dem Zeitlichen, als einem von uns, weiß er sich als Offenbarung. Sein Anspruch, Offenbarung zu sein, gründet ja darin, dass er gleichsam das Ewige herein geholt hat in unsere Welt: "Was niemand je gesehen hat - der hat es uns ausgelegt, der an der Brust des Vaters ruht" (Joh 1,18) - er ist uns zur 'Exegese' Gottes geworden, möchte man in Anlehnung an den griechischen Text beinahe sagen. Aber bleiben wir beim deutschen Wort; das Original ermächtigt uns, es ganz buchstäblich zu nehmen: Jesus hat Gott wirklich ausgelegt, ihn herausgeführt aus sich selbst, oder, wie es der i . Johannesbrief noch drastischer sagt: ihn unserem Anschauen und unserem Betasten freigegeben, so dass der, den nie jemand gesehen hat, nun unserem geschichtlichen Berühren offen steht (1 Jo 1,1-3.).
Im ersten Augenblick scheint das wirklich das Höchstmaß von Offenbarung, von Offenlegung Gottes zu sein. Der Sprung, der bisher ins Unendliche führte, scheint auf eine menschlich mögliche Größenordnung verkürzt, indem wir nur noch gleichsam die paar Schritte zu jenem Menschen in Palästina zu gehen brauchen, in dem uns Gott selber entgegen tritt Aber die Dinge haben eine seltsame Doppelseitigkeit: Was zunächst die radikalste Offenbarung zu sein scheint und in gewissem Maß in der Tat für immer Offenbarung, die Offenbarung, bleibt, das ist doch im selben Augenblick die äußerste Verdunklung und Verhüllung. Was Gott uns zunächst ganz nahezubringen scheint, so dass wir ihn als Mitmenschen anrühren können, seinen Fußspuren zu folgen, sie förmlich nachzumessen vermögen, eben das ist in einem sehr tiefen Sinne zur Voraussetzung für den 'Tod Gottes' geworden, der fortan den Gang der Geschichte und das menschliche Gottesverhältnis unwiderruflich prägt. Gott ist uns so nahe geworden, dass wir ihn töten können und dass er darin, wie es scheint, aufhört, Gott für uns zu sein. So stehen wir heute ein wenig fassungslos vor dieser christlichen 'Offenbarung' und fragen uns vor ihr, besonders wenn wir sie mit der Religiosität Asiens konfrontieren, ob es nicht doch viel einfacher gewesen wäre, an das Verborgen-Ewige zu glauben, sich sinnend und sehnend ihm anzuvertrauen. Ob uns Gott nicht gleichsam besser in der unendlichen Distanz gelassen hätte. Ob es nicht wirklich einfacher vollziehbar wäre, im Aufstieg aus allem Weltlichen in ruhiger Beschauung das ewig unfassbare Geheimnis zu vernehmen, als sich dem Positivismus des Glaubens an eine einzige Gestalt auszuliefern und gleichsam auf der Nadelspitze dieses einen Zufallspunktes das Heil des Menschen und der Welt anzusiedeln. Müsse dieser auf einen Punkt hin verengte Gott nicht definitiv sterben in einem Weltbild, das den Menschen und seine Geschichte unnachsichtig relativiert zu einem winzigen Staubkorn im All, das nur in der Naivität seiner Kinderjahre sich als die Mitte des Universums ansehen konnte, aber nun, den Kinderjahren entwachsen, endlich den Mut haben sollte, vom Schlaf aufzuwachen, sich die Augen zu reiben und jenen törichten Traum, wie schön er auch war, abzuschütteln und sich fraglos dem gewaltigen Zusammenhang einzufügen, in den unser winziges Leben hinein verwiesen ist, das gerade so, im Annehmen seiner Winzigkeit, auf neue Weise Sinn finden sollte?
Erst indem wir die Frage solchermaßen zuspitzen und so in den Blick bekommen, dass hinter dem scheinbar sekundären Skandal von 'damals' und 'heute' das viel tiefere Ärgernis des christlichen 'Positivismus' steht, die 'Einengung' Gottes auf einen Punkt der Geschichte hin, erst damit sind wir bei der ganzen Tiefe der christlichen Glaubensfrage angelangt, wie sie heute bestanden werden muss. Können wir überhaupt noch glauben? Nein, wir müssen radikaler fragen: Dürfen wir es noch, oder gibt es nicht eine Pflicht, mit dem Traum zu brechen und sich der Wirklichkeit zu stellen? Der Christ von heute muss so fragen; er darf sich nicht damit begnügen, zu ermitteln, dass sich durch allerlei Drehungen und Wendungen schließlich auch noch eine Interpretation des Christentums finden lässt, die nirgends mehr anstößt. Wenn etwa irgendwo ein Theologe erklärt, 'Auferstehung der Toten' bedeute nur, dass man täglich unverdrossen von neuem ans Werk der Zukunft zu gehen habe, so ist der Anstoß sicherlich beseitigt. Aber sind wir eigentlich ehrlich geblieben dabei? Liegt nicht doch eine bedenkliche Unredlichkeit darin, wenn Christentum mit solchen Interpretatlonskünsten als heute noch vertretbar aufrecht erhalten wird? Oder haben wir, wenn wir zu solcher Zuflucht uns gedrängt fühlen, nicht vielmehr die Pflicht, zu gestehen, dass wir am Ende sind? Müssen wir uns dann nicht ohne Nebel schlicht der verbleibenden Wirklichkeit stellen? Sagen wir es scharf: ein in dieser Weise wirklichkeitsleer gewordenes Interpretationschristentum bedeutet einen Mangel an Aufrichtigkeit gegenüber den Fragen des Nichtchristen, dessen 'Vielleicht nicht' uns doch so ernst bedrängen muss, wie wir wünschen, dass ihn das christliche 'Vielleicht' bedränge.
Wenn wir versuchen, in dieser Weise das Fragen des andern als die immer währende Befragtheit unseres eigenen Seins anzunehmen, das man nicht in einen Traktat einengen und hernach beiseite legen kann, dann werden wir umgekehrt das Recht haben, festzustellen, dass hier eine Gegenfrage aufsteht. Wir sind heute von vornherein geneigt, einfach das greifbar Vorhandene, das 'Nachweisbare', als das eigentlich Wirkliche zu unterstellen. Aber darf man das eigentlich? Müssen wir nicht doch sorgfältiger fragen, was das in Wahrheit ist, 'das Wirkliche'? Ist es nur das Festgestellte und Feststellbare, oder ist vielleicht das Feststellen doch nur eine bestimmte Weise, sich zur Wirklichkeit zu verhalten, die keineswegs das Ganze erfassen kann und die sogar zur Verfälschung der Wahrheit und des Menschseins führt, wenn wir sie als das allein Bestimmende annehmen? Indem wir so fragen, sind wir noch einmal auf das Dilemma von 'damals' und 'heute' zurückgeführt und nun allerdings der spezifischen Problematik unseres Heute gegenübergestellt. Versuchen wir, ihre wesentlichen Elemente etwas deutlicher zu erkennen!

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Literatur und Quellenhinweis:

Joseph Ratzinger
Einführung in das Christentum

Vorlesungen über das Apostolische Glaubensbekenntnis
München, 1968

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