20070901

Sprung des Glaubens

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Der Sprung des Glaubens -
vorläufiger Versuch
einer Wesensbestimmung des Glaubens

Wenn wir mit allem Gesagten das Bild vom unverständlichen Clown und von den ahnungslosen Dörflern als ungenügend erwiesen haben, um das Zueinander von Glaube und Unglaube in unserer heutigen Welt zu beschreiben, so werden wir andererseits nicht bestreiten dürfen, dass es ein spezifisches Problem des Glaubens heute ausdrückt. Denn die Grundfrage einer Einführung ins Christentum, die aufzuschließen versuchen muss, was es heißt, wenn ein Mensch sagt "Ich glaube" - diese Grundfrage stellt sich uns mit einem ganz bestimmten zeitlichen Index. Sie kann von uns angesichts unseres Geschichtsbewusstseins, das ein Teil unseres Selbstbewusstseins, unseres Grundverständnisses des Menschlichen geworden ist, nur noch in der Form gestellt werden: Was heißt und was bedeutet das christliche Bekenntnis "Ich glaube" heute, unter den Voraussetzungen unserer gegenwärtigen Existenz und unserer gegenwärtigen Stellung zum Wirklichen insgesamt? Damit sind wir zugleich bei einer Analyse des Textes angelangt, der den Leitfaden unserer ganzen Überlegungen abgeben soll: des 'Apostolischen Glaubensbekenntnisses', das von seinem Ursprung her 'Einführung ins Christentum' und Zusammenfassung seiner wesentlichen Inhalte sein will. Dieser Text beginnt symptomatisch mit den Worten "Ich glaube...". Wir verzichten freilich zunächst darauf, dieses Wort von seinem inhaltlichen Zusammenhang her auszulegen; wir unterlassen es auch vorerst noch zu fragen, was es bedeutet, dass diese Grundaussage "Ich glaube" in einer geprägten Formel, in Verbindung mit bestimmten Gehalten und entworfen von einem gottesdienstlichen Zusammenhang her auftritt. Beiderlei Kontext, der der gottesdienstlichen Form wie der der inhaltlichen Bestimmungen, prägt allerdings den Sinn dieses Wörtchens 'Credo' mit, so wie umgekehrt das Wörtchen 'Credo' alles Nachfolgende und den gottesdienstlichen Rahmen trägt und prägt. Dennoch müssen wir beides einstweilen zurückstellen, um radikaler zu fragen und ganz grundsätzlich zu bedenken, was für eine Einstellung überhaupt damit gemeint ist, wenn christliche Existenz sich zunächst und zuerst einmal im Verbum 'Credo' ausdrückt und damit - was keineswegs selbstverständlich ist — den Kern des Christlichen dahin bestimmt, dass es ein 'Glaube' sei. Allzu unreflektiert setzen wir ja meist voraus, dass 'Religion' und 'Glaube' allemal das Gleiche seien und jede Religion daher ebenso gut als 'Glaube' bezeichnet werden könne. Das trifft aber tatsächlich nur in begrenztem Maße zu; vielfach benennen sich die anderen Religionen anders und setzen damit andere Schwerpunkte. Das Alte Testament hat sich als Ganzes nicht unter dem Begriff 'Glaube', sondern unter dem Begriff 'Gesetz' beschrieben. Es ist primär eine Lebensordnung, in der freilich dann der Akt des Glaubens immer mehr an Bedeutung gewinnt. Die römische Religiosität wiederum hat praktisch unter religio vorwiegend das Einhalten bestimmter ritueller Formen und Gepflogenheiten verstanden. Für sie ist nicht entscheidend, dass ein Glaubensakt an Supranaturales gesetzt wird; er kann sogar völlig fehlen, ohne dass man dieser Religion untreu wird. Da sie wesentlich ein System von Riten ist, ist deren sorgfältige Beobachtung für sie das eigentlich Entscheidende. So ließe sich das durch die ganze Religionsgeschichte verfolgen. Aber diese Andeutung mag genügen, um zu verdeutlichen, wie wenig es sich von selbst versteht, dass das Christsein sich zentral in dem Wort 'Credo' ausdrückt, dass es seine Form von Stellungnahme zum Wirklichen in der Haltung des Glaubens benennt. Damit wird freilich unsere Frage nur um so dringlicher: Welche Einstellung ist eigentlich gemeint mit diesem Wort? Und weiter: Wie kommt es, dass uns das Eintreten unseres je persönlichen Ich in dieses 'Ich glaube' so schwer wird? Wie kommt es, dass es uns immer wieder fast unmöglich erscheint, unser heutiges Ich — jeder das seinige, das von dem des andern untrennbar geschieden ist — in die Identifizierung mit jenem von Generationen vorbestimmten und vorgeprägten Ich des 'Ich glaube' zu versetzen? Machen wir uns nichts vor: In jenes Ich der Credo-Formel einzutreten, das schematische Ich der Formel in Fleisch und Blut des persönlichen Ich umzuwandeln, das war schon immer eine aufregende und schier unmöglich scheinende Sache, bei deren Vollzug nicht selten, statt das Schema mit Fleisch und Blut zu füllen, das Ich in ein Schema umgewandelt worden ist. Und wenn wir heute als Glaubende in unserer Zeit vielleicht ein wenig neidisch sagen hören, im Mittelalter sei man in unseren Landen ausnahmslos gläubig gewesen, dann tut es gut, einen Blick hinter die Kulissen zu werfen, wie ihn uns die historische Forschung heute gestattet. Sie kann uns darüber belehren, dass es auch damals schon die große Schar der Mitläufer und die verhältnismäßig geringe Zahl der wirklich in die innere Bewegung des Glaubens Eingetretenen gab. Sie kann uns zeigen, dass für viele der Glaube doch nur ein vorgefundenes System von Lebensformen war, durch das für sie das aufregende Abenteuer, welches das Wort 'Credo' eigentlich meint, wenigstens ebensosehr verdeckt wie eröffnet wurde. Das alles einfach deshalb, weil es zwischen Gott und Mensch eine unendliche Kluft gibt; weil der Mensch so beschaffen ist, dass seine Augen nur das zu sehen vermögen, was Gott nicht ist, und daher Gott der für den Menschen wesentlich Unsichtbare, außerhalb seines Sehfeldes Liegende ist und immer sein wird. Gott ist wesentlich unsichtbar - diese Grundaussage biblischen Gottesglaubens im Nein zur Sichtbarkeit der Götter ist zugleich, ja zuerst, eine Aussage über den Menschen: Der Mensch ist das schauende Wesen, dem der Raum seiner Existenz durch den Raum seines Sehens und Greifens abgesteckt scheint. Aber in diesem Raum seines Sehens und Greifens, der den Daseinsort des Menschen bestimmt, kommt Gott nicht vor und wird nie vorkommen, wie sehr auch immer dieser Raum ausgeweitet werden mag. Ich glaube, es ist wichtig, dass im Prinzip diese Aussage im Alten Testament gegeben ist: Gott ist nicht nur der, der jetzt tatsächlich außerhalb des Sehfeldes liegt, aber so, dass man ihn sehen könnte, wenn es möglich wäre weiter zugehen; nein, er ist der, der wesentlich außerhalb davon steht, wie sehr unser Blickfeld auch immer ausgeweitet werden wird.
Damit zeigt sich aber nun ein erster Umriss der Haltung, die das Wörtchen 'Credo' meint. Es bedeutet, dass der Mensch Sehen, Hören und Greifen nicht als die Totalität des ihn Angehenden betrachtet, dass er den Raum seiner Welt nicht mit dem, was er sehen und greifen kann, abgesteckt ansieht, sondern eine zweite Form von Zugang zum Wirklichen sucht, die er eben Glauben nennt, und zwar so, dass er darin sogar die entscheidende Eröffnung seiner Weltsicht überhaupt findet. Wenn es aber so ist, dann schließt das Wörtchen Credo eine grundlegende Option gegenüber der Wirklichkeit als solcher ein; es meint nicht ein Feststellen von dem und jenem, sondern eine Grundform, sich zum Sein, zur Existenz, zum Eigenen und zum Ganzen des Wirklichen zu verhalten. Es bedeutet die Option, dass das nicht zu Sehende, das auf keine Weise ins Blickfeld rücken kann, nicht das Unwirkliche ist, sondern dass im Gegenteil das nicht zu Sehende sogar das eigentlich Wirkliche, das alle übrige Wirklichkeit Tragende und Ermöglichende darstellt. Und es bedeutet die Option, dass dieses die Wirklichkeit insgesamt Ermöglichende auch das ist, was dem Menschen wahrhaft menschliche Existenz gewährt, was ihn als Menschen und als menschlich Seienden möglich macht. Nochmal anders gesagt: Glauben bedeutet die Entscheidung dafür, dass im Innersten der menschlichen Existenz ein Punkt ist, der nicht aus dem Sichtbaren und Greifbaren gespeist und getragen werden kann, sondern an das nicht zu Sehende stößt, so dass es ihm berührbar wird und sich als eine Notwendigkeit für seine Existenz erweist.
Solche Haltung ist freilich nur zu erreichen durch das, was die Sprache der Bibel 'Umkehr', 'Bekehrung' nennt. Das natürliche Schwergewicht des Menschen treibt ihn zum Sichtbaren, zu dem, was er in die Hand nehmen und als sein eigen greifen kann. Er muss sich innerlich herum wenden, um zu sehen, wie sehr er sein Eigentliches versäumt, indem er sich solchermaßen von seinem natürlichen Schwergewicht ziehen lässt. Er muss sich herum wenden, um zu erkennen, wie blind er ist, wenn er nur dem traut, was seine Augen sehen. Ohne diese Wende der Existenz, ohne die Durchkreuzung des natürlichen Schwergewichts gibt es keinen Glauben. Ja, der Glaube ist die Bekehrung, in der der Mensch entdeckt, dass er einer Illusion folgt, wenn er sich dem Greifbaren allein verschreibt. Dies ist zugleich der tiefste Grund, warum Glaube nicht demonstrierbar ist: Er ist eine Wende des Seins, und nur wer sich wendet, empfängt ihn. Und weil unser Schwergewicht nicht aufhört, uns in eine andere Richtung zu weisen, deshalb bleibt er als Wende täglich neu, und nur in einer lebenslangen Bekehrung können wir inne werden, was es heißt, zu sagen: Ich glaube. Von da aus ist es zu verstehen, dass Glaube nicht erst heute und unter den spezifischen Bedingungen unserer modernen Situation problematisch, ja nahezu etwas unmöglich Scheinendes ist, sondern dass er, vielleicht etwas verdeckter und weniger leicht erkennbar, dennoch immer schon das Springen über eine unendliche Kluft, nämlich aus der dem Menschen sich aufdrängenden Greifbarkeitswelt, bedeutet: Immer schon hat Glaube etwas von einem abenteuerlichen Bruch und Sprung an sich, weil er zu jeder Zeit das Wagnis darstellt, das schlechthin nicht zu Sehende als das eigentlich Wirkliche und Grund gebende anzunehmen. Nie war Glaube einfach die dem Gefälle des menschlichen Daseins von selbst zufallende Einstellung; immer schon war er eine die Tiefe der Existenz anfordernde Entscheidung, die allezeit ein Sichherumwenden des Menschen forderte, das nur im Entschluss erreichbar ist.

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Literatur und Quellenhinweis:

Joseph Ratzinger
Einführung in das Christentum

Vorlesungen über das Apostolische Glaubensbekenntnis
München, 1968

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